Innenaufnahme: Musiktheater im Revier.
Musiktheater im Revier  
Foto:  Pedro Malinowski

In den 1950er und -60er Jahren gab es in der Theaterlandschaft der Bundesrepublik Deutschland einen beispiellosen Bauboom. Ein Großteil der Spielstätten war im Zweiten Weltkrieg zerstört oder beschädigt worden, sodass neu gebaut oder wiedererrichtet werden musste. Welche Bedeutung die junge Demokratie in diesem Prozess hatte, erklärt der Architekturhistoriker Frank Schmitz.

MIZ: Sie schließen derzeit ein DFG-Forschungsprojekt ab, das Sie „Spiel-Räume der Demokratie“ genannt haben. Darin untersuchen Sie den Theaterbau in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975 und fragen hier insbesondere nach dem Verhältnis von gesellschaftlich-politischer und architektonischer Entwicklung. Was markiert Ihren Untersuchungszeitraum?

SCHMITZ: Ich möchte den Theaterbau anhand der Frage untersuchen, inwiefern Architektur das Ergebnis von kollektiven Aushandlungsprozessen ist. Das ist bei Theaterbauten in der Bundesrepublik in besonderem Maße der Fall, weil es öffentliche Bauten sind, an deren Planung und Finanzierung viele Personengruppen beteiligt sind: Kommunen, Stadtparlamente, Ausschüsse, Bauverwaltungen, Preisgerichtsjurys sowie teils eine kritische Öffentlichkeit.

Um die Bauten vergleichen zu können, ist es sinnvoll, einen Untersuchungszeitraum zu wählen, der durch möglichst ähnliche gesellschaftliche und politische Bedingungen gekennzeichnet ist. Ich habe mich deshalb für die junge Bundesrepublik entschieden. Die Theater der DDR habe ich nicht mit einbezogen, weil dort eher Kulturhäuser als klassische Theaterbauten errichtet wurden und dies zudem vor dem Hintergrund ganz anderer politischer und gesellschaftlicher Bedingungen.

Den Beginn des Untersuchungszeitraum markiert das Jahr 1949, also die Gründung der Bundesrepublik. Zum Teil beziehe ich aber auch die direkte Nachkriegszeit mit ein, weil da sehr viele provisorische Wiederaufbauten und intensive Debatten stattgefunden haben, wie und ob man wiederaufbauen sollte.

Als Endpunkt meines Fokus habe ich die Mitte der 1970er Jahre genommen, weil es zu diesem Zeitpunkt ein Ende des Theaterbaubooms gab. Alle großen Städte in der Bundesrepublik hatten bis dahin einen oder mehrere Theaterbauten. Es gab also eine gewisse Sättigung. Gleichzeitig kam um 1970 Kritik an diesem Typ des bundesdeutschen Stadttheaters auf. Es galt in der Presse als zu groß, zu unflexibel und mit zu viel Bühnentechnik überfrachtet, die den Spielraum der Theatermachenden eher einschränkt als aufweitet.

Sehr anschaulich machte dies der Berliner Autor und Theaterregisseur Frank Burckner 1973, als  er Theaterbauten als „teure, sehr teure Särge“ bezeichnete, als „Grabkammern für die schreiende Aida“. Er bezog das gerade auch auf die Bauten, die bis zu dieser Zeit entstanden waren und die immer größer, üppiger, repräsentativer geworden waren. Tatsächlich sind dann ab Mitte der 1970er Jahre in der Bundesrepublik nur noch wenige Theaterbauten neu geplant worden.

Musiktheater im Revier, Architekt: Werner Ruhnau  
Foto:  Pedro Malinowski
Staatsoper Hamburg (1953-1955), Architekt: Gerhard Weber  
Foto:  Niklas Marc Heinicke
Deutsche Oper Berlin (1957-1961), Architekt: Fritz Bornemann  
Foto:  Leo Seidel
Nationaltheater Mannheim (1955-1957), Architekten: Otto Ernst Schweizer und Gerhard Weber  
Foto:  Christian Kleiner

MIZ: Lassen Sie uns noch einmal über den Beginn Ihres Untersuchungszeitraums reden. 1949 lag halb Deutschland noch in Schutt und Asche. Insbesondere die großen Städte waren zu einem großen Teil zerbombt. Zu den Kriegsschäden gehörten auch die Musiktheater. Wie groß waren hier die Schäden?

SCHMITZ: Ich habe versucht, das zu klären, was nicht ganz leicht ist, weil es keine zeitgenössischen Statistiken darüber gibt. Die vorhandenen Statistiken beziehen sich meist auf den Spielbetrieb, nicht unmittelbar auf die Theatergebäude. Es gibt aber eine Statistik des Deutschen Bühnenjahrbuchs von 1948, in der für das Gebiet der Bundesrepublik und der DDR zusammen von 98 restlos kriegszerstörten Theatern die Rede ist. Gleichzeitig werden 133 Staats,- Landes- und Stadttheater und 125 gewerbliche Privattheater aufgeführt, die zu dem Zeitpunkt schon wieder spielten. Das heißt aber nicht, dass diese Gebäude alle unversehrt waren. Es gab nur sehr wenige Theatergebäude, die überhaupt keine Kriegsschäden aufwiesen.

MIZ: Wann hat man angefangen, die Spielstätten wiederherzurichten?

SCHMITZ: Es ging relativ schnell los, nachdem es im September 1944 die sogenannte Theatersperre gegeben hatte, eine Verfügung des Propagandaministers Joseph Goebbels, nach der alle deutschen Theater und Kulturbetriebe kriegsbedingt endgültig geschlossen worden waren, so dass bei Kriegende kein Theater gespielt hat. In der sowjetischen Besatzungszone, die für Berlin die Kulturhoheit hatte, wurden schon am 28. April 1945, also noch vor dem formellen Kriegsende am 8. Mai, Theateraufführungen in Berlin genehmigt. Am 18. Mai 1945 fanden im Friedrichstadt-Palast in Berlin die ersten Kabarettveranstaltungen statt. Das Renaissancetheater in Berlin nahm am 27. Mai 1945 seinen Spielbetrieb auf. Und für September 1945 sind für ganz Deutschland 419 spielende Bühnen verzeichnet, wie Manfred Brauneck in seiner 2007 erschienenen Studie Die Welt als Bühne: Geschichte des europäischen Theaters berichtet.

Diese Bühnen haben natürlich nicht alle in unzerstörten Bauten gespielt. Oft wurde eine Spielstätte notdürftig hergerichtet. Zum Teil hat man auch innerhalb der zerstörten Theaterbauten improvisiert und Teile genutzt. In Hamburg hat man in der Staatsoper den unzerstörten Bühnenraum in eine kleine Spielstätte umfunktioniert und den Zuschauerraum erst einmal als Ruine belassen.

MIZ: Welche Wiederaufbaukonzepte wurden im Anschluss an die Phase der Improvisation in der direkten Nachkriegszeit diskutiert?

SCHMITZ: Es gab viele Architekten und Theatermachende, die in der Zerstörung der Theaterbauten eine Chance sahen, von als überholt geltenden Konzepten wie beispielsweise der Guckkastenbühne wegzukommen. Es wurde eine Raumbühne vorgeschlagen, bei der das Spielgeschehen in die Mitte des Auditoriums gerückt werden sollte, statt wie in der Guckkastenbühne einem Publikum gegenüberzustehen.

Dabei knüpften Architekten an ältere Ideen beispielsweise von Walter Gropius an. Sein Entwurf für das Totaltheater von 1927 beinhaltet genau dieses Konzept, nämlich eine flexible Zuordnung von Spielfläche und Auditorium sowie eine zentrale Spielfläche, um die herum sich das Publikum versammelt.

In der Realität sah das allerdings oft viel pragmatischer aus. Vielfach wurden kriegsbeschädigte Theaterbauten einfach wiederhergestellt und höchstens mit einem renovierten Interieur und einem veränderten Zuschauerraum versehen. Im Wesentlichen blieb man bei dem räumlichen Konzept der Vorkriegsbauten.

Auch bei den Theaterneubauten der Nachkriegszeit hielt man an dem Konzept einer Guckkastenbühne und einer strengen Gegenüberstellung von Publikum und Akteuren fest. Dies hatte nicht zuletzt praktische Gründe. Viele Theater wurden als Dreispartentheater errichtet, sie wurden also auch für die Oper genutzt. Daraus ergab sich, dass das Publikum nur vor dem Orchester platziert werden konnte, eine starre Zuordnung auf einer Achse, die nicht zuletzt durch das Opernspiel determiniert gewesen ist.

MIZ: Welche Überlegungen spielten für die Entscheidung über Abriss oder Neubau eine Rolle?

SCHMITZ: Das hat man oft sehr pragmatisch nach dem Zerstörungsgrad entschieden. Wo man mit vertretbarem Aufwand ein Gebäude wiederherstellen konnte, hat man das getan. Ohnehin hat man eher versucht, wiederherzustellen und sei es nur, indem man noch erhaltene Grundmauern in den Neubau mit einbezog.

Die Entscheidung zugunsten eines Wiederaufbaus  hatte zudem oftmals ideelle Ursachen. Man wollte der Bevölkerung vermitteln, dass ihr altes Theater wiederhergestellt war. Wenn es vielleicht auch anders, moderner aussah, stand es doch am alten Platz und war auf den alten Grundmauern und vielleicht sogar in den alten Umrissformen neu entstanden. Dies war beispielsweise beim Bochumer Schauspielhaus der Fall, das 1953 eröffnet wurde.

Erst später kam vor allem in Architektenkreisen die Debatte auf, dass es ist viel teurer war, bauliche Reste mit einzubeziehen als sie einfach abzuräumen und neu zu bauen. Man war auch viel eingeschränkter, weil man Grundrissformen und Wände berücksichtigen musste und dadurch sehr stark limitiert war, Raumzuschnitte zu verändern.

MIZ: Spielte das neue politische System in der Debatte ebenfalls eine Rolle?

SCHMITZ: Ja, die Bauten sollten einen adäquaten Ausdruck für die demokratische Gesellschaft und für das neue politische System bilden. Deshalb sollten sie auf keinen Fall genauso aussehen wie die Vorkriegstheater oder die Theater des 19. oder frühen 20. Jahrhunderts. Das war aber auch Teil einer generellen Entwicklung. In der Nachkriegszeit lehnte man das Wilhelminische, das Überladene, Prunkvolle in der Architektur ab. Daher hat man auch modernistische Formen gewählt, moderne Baumaterialien, Stahlbeton, Glas.

Vor allem in den 1950er Jahren kam der Verwendung von Glas in der Bundesrepublik ein hoher ideeller Stellenwert zu als Symbol für Transparenz, für Teilhabe und letztlich für Demokratie. Für den Theaterbau ist das sehr wichtig geworden. Eine wesentliche Innovation der Nachkriegszeit waren die großflächig verglasten Publikumsfoyers, die sich zur Straße und zum Stadtraum öffneten, um gleichermaßen Einblicke und Ausblicke zu ermöglichen. Damit war die Hoffnung verbunden, Schwellenängste abzubauen und dem Theater und der Oper ihren elitären Charakter zu nehmen.

Die Debatte drehte sich aber ganz wesentlich auch um die Innenräume und die Zuschauersäle. Man wollte nicht mehr das höfische Theater des 17. und 18. Jahrhunderts und auch nicht das bürgerliche Theater des 19. Jahrhunderts mit Rängen und Logen, die eine hierarchische Gliederung der Gesellschaft andeuteten. Man lehnte auch die prominent platzierte Mittelloge ab, die in vielen Theatern traditionell als Fürstenloge und während der NS-Zeit als „Führerloge“ eingerichtet worden war. Entwerfende wie Auftraggebende von Theaterbauten wollten sich ganz klar abgrenzen von irgendeiner Art von prominentem, exponiertem Sitzplatz im Auditorium.

Die Frage, wie man ein solches Auditorium egalitär und demokratisch anordnen konnte, war nicht ganz leicht zu lösen. Einerseits griff man auf Amphitheaterkonzepte zurück mit einem leicht geschwungenen, ansteigenden Parkett, das nicht hierarchisch in Rängen nach oben gegliedert war und damit die demokratische, weil egalitäre Verfasstheit veranschaulichen sollte. Andererseits legte man aus pragmatischen Gründen doch Ränge an und argumentierte, dass die demokratische Form für einen Zuschauerraum eben doch das Rangtheater sei, weil man dort möglichst viele Leute möglichst nah an die Bühne bekomme und man somit Theaterkarten günstiger verkaufen könne.

Außenansicht des Staatstheaters Kassel 2007  
Foto:  N. Klinger
Treppenaufgang im Foyer des Staatstheaters Kassel in der Gestaltung von Blasius Spreng, 1959  
Foto:  Staatstheater Kassel
Säulendekor von 1959 im Foyer des Staatstheaters Kassel  
Foto:  Staatstheater Kassel
Zuschauerraum des Staatstheaters Kassel  
Foto:  Staatstheater Kassel
Opernfoyer des Staatstheaters Kassel  
Foto:  Staatstheater Kassel
Logen und Wandverkleidung nach Entwürfen von Blasius Spreng (1959) im Zuschauerraum des Staatstheaters Kassel  
Foto:  Staatstheater Kassel
Staatstheater Kassel 2012. Der Bau entstand 1955-1959 nach einem Entwurf von Paul Bode und Ernst Brundig.  
Foto:  N. Klinger
Das 1959 eröffnete Staatstheater Kassel in einer Luftaufnahme aus den 1960er Jahren (Postkarte)  
Foto:  Staatstheater Kassel
Außenansicht des Staatstheaters Kassel Mitte der 1960er Jahre (Postkarte)  
Foto:  Staatstheater Kassel

MIZ: Eine besondere Herausforderung stellte das Theater in Bonn dar. Auf der einen Seite sollte es einer demokratischen Gesellschaft angemessen erscheinen, auf der anderen Seite als Theater des Regierungssitzes der Bundesrepublik repräsentative Aufgaben übernehmen. Wie gelang dieser Spagat?

SCHMITZ: Die Protagonistinnen und Protagonisten, die in den 1950er Jahren in Bonn mit der Planung und dem Bau des Theaters beschäftigt waren, standen vor der Quadratur des Kreises. Die Stadt brauchte ein neues Theater, weil das alte kriegszerstört war. Gleichzeitig war Bonn der als provisorisch behauptete Sitz der Bundesregierung und des Bundestags, und Staatsgäste sollten bei Besuchen in Bonn mit den deutschen Politikern ins Theater oder in die Oper gehen können. Einen allzu repräsentativen Bau wollte man dafür jedoch nicht errichten, weil man Sorge hatte, dadurch Bonn als Regierungssitz zu stark aufzuwerten und damit die deutsche Teilung indirekt zu zementieren.

Im kommunalen Theaterbauausschuss forderten einzelne Mitglieder eine „Monarchenloge“ für Besuche des Bundespräsidenten mit auswärtigen Gästen, andere lehnten eine solche als undemokratisch ab. In der Wettbewerbsausschreibung entschied man sich letztlich für den Begriff der „Repräsentationsloge“ und überließ den entwerfenden Architektinnen und Architekten die Lösung des Problems.

Das Konzept der beiden Architekten Klaus Gessler und Wilfried Beck-Erlang sah dann vor, in der Mitte des Rangs herausnehmbare Sitze zu installieren, die man durch breitere, bequemere Sessel für Staatsgäste ersetzen konnte.

Man wollte auf jeden Fall Anklänge an höfische Rang- oder Logentheater vermeiden und hat auch deshalb den Saal asymmetrisch angelegt; auf einer Seite geht der Rang in einer abschüssigen Form bis ins Parkett über. Auch dieses Durchbrechen von Axialität und Zentrierung des Saals sollte die ehemalige Konzentration auf die „Repräsentationsloge“ verhindern.

MIZ: Sind in der Zeit bei den Theaterbauten architektonische Leuchtturmprojekte entstanden?

SCHMITZ: Der Begriff ist insofern etwas schwierig, weil eigentlich kaum ein deutsches Stadttheater in der Architekturgeschichtsschreibung als Meisterwerk gilt. Die Theaterbauten sind vor allem dadurch interessant, dass sie immer wieder Kompromisse sind, Weiterentwicklungen, Transformationen und damit Ergebnisse von höchst relevanten Aushandlungsprozessen.

Dennoch gibt es einzelne Bauten, die gewisse Wegmarken darstellen. Das ist unter anderem das Stadttheater in Münster, 1956 eröffnet, das vielfach als erster moderner Theaterbau der Nachkriegszeit in Deutschland gilt. Es weist eine typische Formensprache der 1950er Jahre auf und zeigt erstmals abstrakte Kunst am Bau anstelle der traditionellen, humanistisch verwurzelten allegorischen Darstellungen, die Theater zuvor vielfach charakterisiert haben.

Ganz wesentlich ist aber ein Konzept für ein Theater, das nie realisiert wurde, nämlich der Entwurf Ludwig Mies van der Rohes für das Nationaltheater in Mannheim, ein Wettbewerb aus den Jahren 1952/53. Dieser Entwurf wurde weithin in Fachkreisen bekannt und hatte einen enormen Einfluss. Mies van der Rohe schlug einen ganz reduzierten Stahl-Glas-Kubus als Theater vor, einen Typ Schuhkarton, in den alles integriert wurde. Die Verwendung von großen Glasflächen im Entwurf von Mies van der Rohe wurde für zahlreiche Theaterbauten in der Folgezeit prägend, unter anderem beim Theater in Gelsenkirchen, das 1959 eröffnet wurde.

Einen weiteren Paradigmenwechsel würde ich mit dem Stadttheater in Ingolstadt ansetzen, 1966 eröffnet. Das ist ein Bau, der abkehrt von dem „Schuhkartonkonzept“ Mies van der Rohes zugunsten einer komplexen, fast skulpturalen Form aus sichtbar belassenem Beton. Er wischt die Lieblichkeit vieler Theater der 1950er Jahre mit ihren pastellfarbenen Mosaikverkleidungen, den holzvertäfelten Wänden und Messingzierleisten beiseite zugunsten eines harten, fast bunkerhaften Gebäudes mit Anklängen an den aufkommenden Brutalismus.

„Ein Theater gehörte zum Selbstverständnis der Stadt.“
Autor
Frank Schmitz

MIZ: In architektonischer Hinsicht orientierten sich die Bauten also an einer internationalen Entwicklung. Was charakterisiert darüber hinaus die bauliche Situation der Theater in Deutschland?

SCHMITZ: Das Besondere an der Situation in der Bundesrepublik ist, dass im internationalen Vergleich in kaum einem anderen Land zu irgendeiner Zeit so viele Theater in so kurzer Zeit neu gebaut worden sind. Dies wurde unter anderem durch die kommunale Konkurrenz innerhalb eines föderal organisierten Staates begünstigt. Städte, deren Nachbarkommune bereits ein neues Theater hatten, wollten ebenfalls eins. Dies zeigt, dass es bei den Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern ein tief verwurzeltes Verständnis gab, dass zu einer Stadt auch ein Theatergebäude gehörte.

Diese Meinung wurde auch von den Bürgerinnen und Bürgern geteilt. Es gab dazu 1959 eine Umfrage unter den Einwohnern der Stadt Wolfsburg. Die Frage, ob sich die Stadt ein Theater bauen solle, bejahten 39 Prozent der Befragten. Der Anteil derer, die dann auch tatsächlich ins Theater gingen, war aber viel geringer. Daraus ergibt sich die interessante Schlussfolgerung, dass sich viele der Befragten ein Theater wünschten, obwohl sie selbst dort nie hingingen. Ein Theater gehörte also zum Selbstverständnis der Stadt und sollte wohl gerade in einer relativ jungen Stadt wie Wolfsburg dazu beitragen, Legitimität und Vollwertigkeit als Kommune reklamieren zu können.

MIZ: In den 1960er Jahren entstand in der bundesrepublikanischen Gesellschaft eine starke Protestbewegung. Wir sprachen schon darüber, dass es eine Abkehr von den architektonischen Formen der Vorkriegszeit gegeben hat. Gerieten nun auch die Theaterkonzepte insgesamt in die Diskussion?

SCHMITZ: Absolut. Das autoritäre Erzählen von einer Bühne herunter – eine oder einer spricht und alle anderen sitzen im Dunklen und müssen zuhören – galt vielen als überholt und als Ausdruck überkommener gesellschaftlicher Strukturen. Es gab ganz starke Tendenzen, das aufzubrechen. Peter Handke hat beispielsweise Ende der 1960er Jahre einen längeren Aufsatz über das Straßentheater geschrieben – eine Theaterform, die eine räumliche Zuordnung von Bühne und Auditorium nicht kennt und sich einfach im Außenraum platziert und formiert.

Andere Kritiker waren noch radikaler. Der Komponist und Dirigent Pierre Boulez hat 1967 in einem Interview mit dem Spiegel gefordert, „sprengt die Opernhäuser in die Luft“, weil er der Meinung war, dass die Fixierung, die räumliche Zuordnung nicht mehr den kreativen Bedürfnissen der Theater- und Opernmachenden entsprach.

Außerdem wurden alternative Spielorte adaptiert, alte Fabrikhallen oder Messegelände – ein prominentes Beispiel ist die Spielstraße von Werner Ruhnau bei den Olympischen Spielen 1972 in München, bei der künstlerische Ereignisse entlang eines landschaftlichen Parcours „inszeniert“ wurden.

MIZ: Hatten die Kritik und die alternativen Spielstätten Auswirkung auf die Theaterarchitektur?

SCHMITZ: Das ist schwer zu sagen, weil seit den 1970er Jahren relativ wenige Theaterbauten neu entworfen worden sind. Diejenigen, die realisiert wurden, blieben dem Typ der Guckkastenbühne stark verhaftet.

Es gab allerdings schon seit den 1960er Jahren Versuche, flexiblere Raumgestaltungen zu ermöglichen. In Gelsenkirchen lässt sich im Kleinen Haus beispielsweise die Zuordnung von Bühne und Auditorium variabel gestalten. Auch im Mannheimer Nationaltheater gibt es dazu ganz starke Ansätze. Aber im Großen und Ganzen blieb es relativ konventionell.

MIZ: Lassen Sie uns zum Schluss noch einen Blick auf die heutige Musiktheaterlandschaft werfen. Viele der Theaterbauten, die in der Nachkriegszeit entstanden sind, sind Sanierungsfälle. Hinzu kommen Forderungen nach neuen Nutzungsmöglichkeiten und einer stärkeren Öffnung zur Stadtgesellschaft. Können das die Gebäude aus den 1950er und 1960er Jahren leisten?

SCHMITZ: Auf jeden Fall. Viele der Theaterbauten sind ja bereits saniert worden, zum Teil seit den 1980er und 1990er Jahren. Manche werden jetzt erst Gegenstand von Sanierungsarbeiten, die hoffentlich einigermaßen denkmalgerecht durchgeführt werden, denn viele der Theaterbauten aus der Nachkriegszeit stehen unter Denkmalschutz und sollten als Zeugnisse einer Epoche und eines bestimmten Verständnisses von Theaterbau erhalten bleiben.

Ich habe im Rahmen meiner Forschungen eine ganze Reihe von Theatern besucht und sehr lebendige und oft auch sehr gut besuchte Theater vorgefunden, in denen viele interessante Aktionen und Aneignungsprozesse mit den Gebäuden stattfinden – teils ergänzt durch externe Spielorte, in denen alternative Inszenierungsformen ausprobiert werden. Gleichzeitig erfreuen sich auch konventionelle Stücke, darunter Operninszenierungen, großer Beliebtheit und rechtfertigen es, diese oftmals qualitätvollen und für ihre Zeit charakteristischen Gebäude weiter zu nutzen.

Dieser Tage wird ja über den Antrag entschieden, die Deutsche Theater- und Orchesterlandschaft in die UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes aufzunehmen. Dieses immaterielle Erbe wäre nicht denkbar ohne das architektonische, also materielle Erbe der Theaterbauten, die in der Bundesrepublik zu einem wesentlichen Teil in der Nachkriegszeit errichtet worden sind.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview fand am 7. Oktober 2019 statt. Die Fragen stellte Karin Stoverock.

Frank Schmitz

Dr. Frank Schmitz ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Architektur und Architekturtheorie des 19. bis 21. Jahrhunderts sowie Theaterbau.