Europa soll barrierefrei werden. Seit 2022 wird in allen EU-Ländern verpflichtend die EU-Richtlinie zur Barrierefreiheit umgesetzt. Musiktheater und Konzertwesen werden hierbei vom Gesetzgeber nicht gesondert berücksichtigt. Dennoch schließen sich aus eigener Verantwortung die öffentlich geförderten Musik- und Kulturveranstalter dem gesellschaftspolitisch großen Ziel der EU an: Menschen mit Behinderung sollen wie Menschen ohne Behinderung gleichberechtigt am kulturellen Leben teilhaben. So sieht es auch die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) vor, die in Deutschland 2009 in Kraft getreten ist. Aus dieser gesetzlichen Grundlage ließe sich etwa eine Angebotspflicht von Audiodeskriptionen in Opernhäusern ableiten. Bisher besteht dazu keine Verpflichtung; dazu müsste es erst Präzedenzfälle geben, die das Recht, das den Betroffenen seit 2009 zusteht, erstreiten. Dass es Opern mit Audiodeskription dennoch längst gibt, ist der Motivation der Häuser zu verdanken.
Etwas anders sieht es mit der gesetzlichen Grundlage bei der physischen Barrierefreiheit aus. Aus dem erstmals 2002 verabschiedeten bundesweit geltenden Behindertengleichstellungsgesetz leiten sich vielerlei Vorgaben zur Barrierefreiheit ab, die u. a. Eingang in die Bauverordnungen der jeweiligen Bundesländer erhalten haben. Beim Neubau einer Konzerthalle beispielsweise gelten die landesbaurechtlichen Bestimmungen zu barrierefreiem Bauen.
Ein Blick in die bundesdeutsche Musiktheaterszene und ins Konzertwesen zeigt, dass die Aufführungsstätten in den letzten Jahren vielerlei Angebote geschaffen haben, die im Hinblick aufs Publikum mehr und bessere Inklusion von Menschen mit körperlicher oder kognitiver Behinderung ermöglichen können. Es zeigen sich jedoch auch Lücken.
Physische Barrierefreiheit
Bei der baulichen Barrierefreiheit der Veranstaltungsorte hat sich in den vergangenen Jahren vieles getan, nicht nur bei Neubauten. Auch in älteren Gebäuden wurden Aufzüge, Rampen, geräumigere Sanitärorte und ähnliches eingerichtet, um auch Menschen mit Rollstuhl oder Rollator Konzert- und Musiktheaterbesuche zu ermöglichen. Die Dringlichkeit dafür hat beispielsweise die Deutsche Theatertechnische Gesellschaft (DTHG) seit längerem ihren Mitgliedern kommuniziert, sodass bei Sanierungen von älteren Bestandsbauten heute Aspekte der physischen Barrierefreiheit in aller Regel mitgeplant werden. [1] Allerdings ist man von „barrierefrei“ im Sinne von Gleichberechtigung und Selbstbestimmtheit, wie es die UN-BRK vorsieht, noch immer weit entfernt. Zugang in die Säle gibt es per Rollstuhl häufig nur über Umwege oder Seiteneingänge. Oft müssen Betroffene das Personal um Mithilfe bitten. Aufgrund der baulichen Gegebenheiten, insbesondere bei denkmalgeschützten Altbauten, sind der Ermöglichung physischer Barrierefreiheit oft gewisse Grenzen gesetzt. Idealerweise aber – wie z. B. das Eduard-von-Winter-Theater in Annaberg-Buchholz – informieren die Veranstaltungsorte die Besuchenden vorab, wo am Haus Barrierefreiheit besteht und wo Zugänge nicht möglich sind.
Wer auf Mobilitätshilfen wie Rollstuhl oder Rollator angewiesen ist, braucht bestimmte Bewegungsflächen, etwa um zu wenden oder auch um ggf. die Mobilitätshilfe zu verlassen. Die Bewegungsflächen sind in der technischen Norm DIN 18040-1 „Barrierefreies Bauen in öffentlichen Gebäuden“ definiert und diese Norm gilt seit 2010 vielen Landesbauordnungen als Orientierung. [2] Diese Normen bilden allerdings aus Sicht der Betroffenen beispielsweise beim Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter lediglich Mindestanforderungen ab. In der Realität jedoch werden auch diese Mindestanforderungen häufig nicht erfüllt, selbst wenn Veranstaltungsorte nach Eigenangabe als barrierefrei ausgewiesen sind. Einige Häuser wie etwa das Konzerthaus Dortmund oder das Mecklenburgische Staatstheater Schwerin haben sich deshalb das Zertifikat „Reisen für alle“ [3] erteilen lassen. Nach eingehender Prüfung werden die Orte hier mit einer bundesweit geltenden Kennzeichnung versehen, die Auskunft über die teilweise oder vollständige Einhaltung von Qualitätsstandards gibt.
Veranstaltungshäuser rechnen und kalkulieren mit jedem Platz. Um Raum für Rollstuhlplätze zu schaffen, werden bei fest installierten Stuhlreihen einzelne Stühle herausgenommen, wobei jeder weggenommene Stuhl innerhalb der Eintrittspreissysteme weniger Umsatz bedeutet. Als Orientierungswert dient, dass ein Prozent der verfügbaren Plätze Rollstuhlplätze sein sollen. Dies jedoch kann mitunter nur in neu errichteten oder erst jüngst sanierten Häusern konsequent umgesetzt werden, so z. B. im 2017 wiedereröffneten Kulturpalast Dresden, wo im großen Saal 18 Rollstuhlplätze zur Verfügung stehen, das heißt zehn im Parkett und optional acht im 1. Rang.
Schwerbehinderte Menschen erhalten in der Regel ermäßigte Eintrittspreise. Wer aufgrund der Schwere seiner Behinderung in seinem Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen B eingetragen hat, ist auf die Hilfe einer Begleitperson angewiesen. Für diese Begleitperson sind die Regelungen zum Eintrittspreis je nach Veranstalter sehr unterschiedlich gestaltet, von kostenloser Begleitkarte bis zum Preis in voller Höhe ist alles vertreten.
Audiodeskription
In den elektronischen Medien ist sie bereits etabliert: Für Menschen mit Sehbehinderung werden Fernseh-, Kino- oder Streamingproduktionen mit einer akustischen Bildbeschreibung ausgestattet. Diese Audiodeskription ergänzt die gezeigten Inhalte und Handlungen und beeinträchtigt sie so wenig wie möglich. Sie erfolgt deshalb in Dialogpausen, wird aber bestmöglich handlungssynchron ins gezeigte Geschehen eingefügt. Nach und nach hält Audiodeskription auch im Musiktheater Einzug und wird in der Bundesrepublik gegenwärtig etwa von einem Viertel der Stadt- und Staatstheater angeboten, ausschließlich in den Großstädten. [4] Im Tournee- und Gastspielbetrieb oder bei kleineren Bühnen auf dem Land ist Audiodeskription nur äußerst selten – und wenn, dann bei besonderen Produktionen – anzutreffen. [5]
Audiodeskription wird an den Häusern jedoch nicht „flächendeckend“ für sämtliche Vorstellungen des gesamten Spielplans, sondern lediglich für einzelne Vorstellungen bestimmter Produktionen angeboten, im Fachjargon gerne „Insel-Veranstaltung“ genannt. Diese Vorstellungen sind „normale“ Aufführungen sowohl für Menschen, die die Audiodeskription in Anspruch nehmen, als auch für jedwedes andere Publikum. Man kann dabei per In-Ear-Kopfhörer über ein Audioguide-System den Live-Audiokommentar mitlaufen lassen. Wie beispielsweise an der Deutschen Oper Berlin werden vorab meist Hintergrundinformationen zu den Opern, Operetten oder Musicals in Form eines Podcasts o. ä. gegeben. Eine andere Ergänzung ist eine Tastführung vor der Vorstellung, bei der das Publikum z. B. wichtige Requisiten oder Bühnenbildelemente per Berührung kennenlernen kann.
Bei der Audiodeskription für das Musiktheater arbeiten die meisten Häuser mit speziell geschulten Autor*innen. Der Live-Audiokommentar wird dabei mit direkter Sicht aufs Bühnengeschehen eingesprochen, was in einer Dolmetscherkabine geschehen kann oder auch durch Live-Video- und Tonübertragungen für die Audiokommentierenden geleistet wird. Nach Auskünften von drei Theatern ist das Erstellen einer Audiodeskription jeweils mit Kosten im unteren vierstelligen Bereich zwischen 2.000 bis 4.000 Euro verbunden. Erste Versuche mit Audiodeskriptionen sind viele Häuser deshalb mit externer Finanzunterstützung angegangen. Am Staatstheater Augsburg etwa steuerten 2019 der Freundeskreis Theaterfreunde Augsburg und die Herbert-Funke-Stiftung gesonderte Gelder bei. Mittlerweile gelingt die Finanzierung aus eigener Kraft. Es gibt ein eigens kalkuliertes Inklusionsbudget. In Augsburg sind in der Spielzeit 2023/24 insgesamt drei Musiktheaterproduktionen zu je zwei Vorstellungen mit Audiodeskription im Angebot. Diese Vorstellungen werden zudem in Gebärdensprache gedolmetscht.
Gebärdensprache
Das Live-Dolmetschen in Gebärdensprache für gehörlose Menschen findet nach und nach auch beim Musiktheater Einsatz. Bislang sind es hier aber erst etwa 5 Prozent der Stadt- und Staatstheater. Das Angebot des Gebärdensprachdolmetschens erstreckt sich in keinem der Fälle über den kompletten Spielplan für sämtliche Veranstaltungen, sondern es sind auch hier stets nur bestimmte Produktionen, die zu bestimmten Vorstellungen als „Insel-Veranstaltungen“ in Gebärdensprache übersetzt werden. Das Genre Musical steht dabei etwas öfter im Fokus als klassische Oper, während allerdings insgesamt die Aktivitäten für die Schauspielsparte ohne Musik am größten sind. [6]
Ziel des Gebärdensprachdolmetschens ist der Versuch, Musiktheatervorstellungen gehörlosen und gebärdensprachkompetenten Menschen begreifbar zu machen. Dafür werden auch begleitende Einführungsveranstaltungen genutzt, die zum einen ebenfalls gedolmetscht werden und in denen zum anderen auch anschaulich wichtige Requisiten vorgestellt oder Fotos der handelnden und mit Namen genannten Figuren gezeigt werden. Mit diesen Vorinformationen kann sich das gehörlose Publikum besser in der Handlung orientieren.
Prinzipiell sind bei der Bühnenkunst zwei Arten des Dolmetschens möglich. [7] Beim sogenannten „Shadowing“ begeben sich mehrere Dolmetschende in Schwarz gekleidet auf die Bühne. Sie laufen während des Spiels mit den Figuren wie deren Schatten mit und übersetzen jeweils simultan deren Textpassagen. Dieses mit hohem Produktionsaufwand verbundene Verfahren ist bislang im deutschen Musiktheater nur vereinzelt anzutreffen. In abgewandelter Variante zeigen etwa in der Spielzeit 2023/24 die Landesbühnen Sachsen die Dvorák-Oper „Rusalka“ in einer Kammerfassung, wobei die Hauptrolle doppelt besetzt ist mit einer Sängerin und einer gebärdenden Schauspielerin. Üblich ist hingegen die „Platform-Interpretation“. Dabei befinden sich die Dolmetschenden außerhalb des Bühnenraums – daneben oder davor – auf gesonderten Positionen, von denen aus simultan übersetzt wird. Das Management kontingentiert hierbei meist für das gebärdensprachkompetente Publikum in den vorderen Reihen bestimmte Plätze, von denen aus man sowohl die Dolmetschenden als auch das Bühnengeschehen gut im Blick hat.
Gerne wird mit zwei Dolmetschenden gearbeitet, um Rezitative und Dialoge mit wechselnden Stimmen anschaulich zu übersetzen. Die Dolmetschenden geben auch Informationen über das Libretto hinaus. Dazu gehören vereinbarte Zeichen für „Musik“ oder „Stille“, für „Einspielung von Geräuschen“ oder „Raunen durchs Publikum“ und Ähnliches.
Im Konzertwesen hat das Übersetzen von Musik in Gebärdensprache nach wie vor absolute Seltenheit. Es gibt einzelne Initiativen und Projekte, die nicht zuletzt mit innovativer und experimenteller Herangehensweise gehörlosen Menschen Inklusion bei Musikerlebnissen ermöglichen möchten. [8] Das Übersetzen von Musik birgt unter dem Aspekt kultureller Aneignung auch Risiken, wenn hörende Dolmetschende hörbehinderten Menschen durch die Übersetzungen vorgeben und vorfiltern, wie musikalische Ereignisse in Gebärdensprache auszusehen haben. Der Einsatz von Gebärdenmuttersprachler*innen kann hier Brücken bauen. [9]
Inklusive Formate
Gehörlose und sehbehinderte Menschen sind zumeist in Communitys organisiert. Sie zu kontaktieren und zu binden, gehört zu den in den letzten Jahren neu hinzugekommenen Aufgaben des Konzert- und Theatermanagements. Hinweise, dass Fahrdienste oder Taxis zu vergünstigtem Tarif verfügbar sind, dass Assistenz- und Führhunde willkommen sind oder auch eigene Gebärdensprachdolmetscher mitgebracht werden können, müssen deutlich kommuniziert werden. Solche gezielte Kommunikation wird im Sinne der Inklusion auch auf andere Zielgruppen angewandt, etwa auf Menschen mit Demenz. Hier bietet z. B. die Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz mit „Musik – Unvergessen“ Konzerte für Demenzerkrankte und deren pflegende Angehörige. Neue Konzertformate erarbeitet derzeit das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin in seinem auf vier Jahre angelegten Modellprojekt „Konzert für alle“. Es soll gehörlosen und schwerhörigen Menschen sowie Menschen mit kognitiven Einschränkungen Teilhabe am Konzertwesen ermöglichen, um sie dauerhaft in das Konzertangebot des Orchesters zu integrieren. Die inklusiven Formate sollen darüber hinaus offen für alle Besucher*innen sein.
Hörunterstützung
Öffentliche Gebäude, in denen Lautsprecheranlagen installiert sind, sollen – entsprechend den baurechtlichen Vorschriften in den Bundesländern – mit Höranlagen bzw. Induktionsanlagen für schwerhörige Menschen ausgestattet sein, sofern dies die baulichen Begebenheiten erlauben. Nahezu alle Konzert- und Musiktheaterhäuser bieten deshalb Hörunterstützungen an, fest verbaut zumindest an deren jeweiligen Hauptspielstätten. Hierbei werden die Schallereignisse von der Bühne und aus dem Orchestergraben elektronisch verstärkt auf eine Induktionsschleife übertragen, die das Signal an entsprechende Empfangsgeräte des Publikums bzw. deren Hörgeräte oder Cochlea-Implantate weiterleitet. Die Hörgeräte müssen entsprechend mit einer T-Spule ausgestattet sein. Das jedoch ist bei vielen kleinen, modernen Geräten nicht mehr der Fall, da hier häufig Bluetooth-Technologie zum Einsatz kommt. Im Schauspiel werden deshalb zunehmend auch WLAN-basierte Höranlagen genutzt, die die Signale in Kombination mit einem Smartphone auf die Geräte, auch auf In-Ear-Kopfhörer übertragen.
Leichte, Einfache und vereinfachte Sprache
Nur vereinzelt finden sich bei deutschen Stadt- und Staatstheatern Musiktheater-Angebote in Einfacher oder Leichter Sprache. Bei den wenigen Häusern, die hierzu einen sensibilisierten Sprachgebrauch etablieren, liegt der Fokus zudem vorrangig auf der Textgestaltung von Infomaterialien und Internetauftritt. So zum Beispiel am Main-Franken-Theater Würzburg. Während Leichte Sprache sehr strikten Richtlinien folgt, etwa was kurze Wortlängen und unverschachtelten Satzbau betrifft, ist Einfache Sprache weniger streng geregelt und noch stärker an der Standardsprache orientiert. Das Theater für Niedersachsen bietet Opernproduktionen mit Übertiteln in verschiedenen Sprachen an, darunter auch bestimmte Produktionen in „vereinfachter Sprache“, einer mit linguistischer Expertise am Hause erarbeiteten Mischform aus Leichter und Einfacher Sprache. Zielgruppe solcher Angebote sind nicht nur Menschen mit kognitiven Einschränkungen, sondern auch hörende wie gehörlose Personen, deren Muttersprache nicht das Deutsche ist.
Laute Vorstellung und Trigger-Informationen
Still zu sitzen und leise zu sein, bedeutet für manche Menschen Stress. Dies können Personen mit Autismus, Tourette, chronischen Schmerzen oder anderen Unruhe-Syndromen sein. Sie meiden Konzert- und Theaterbesuche oft, um bei anderen nicht negativ aufzufallen. Mehr und mehr bieten Kulturveranstalter auch in Deutschland Aufführungsformate an, die sich an das aus Großbritannien stammende Konzept der „Relaxed Performances“ orientiert. [9] Still zu sitzen ist hier kein Muss. Geräusche im Publikum sind willkommen, weshalb das Format hierzulande auch als „Laute Vorstellung“ beschrieben wird, was jedoch irritieren kann. Denn seitens der Aufführenden wird auf extreme sensorische Reize, die potenziell negative Reaktionen auslösen können, ausdrücklich verzichtet. Dazu gehören nicht nur Stroboskop-Licht und extreme Lichtwechsel, sondern auch hohe Lautstärken. Unter dem Titel „Theater entspannt“ lädt z. B. das Theater Münster explizit zu Vorstellungen mit angepassten Aufführungsbedingungen ein. So bleibt beispielsweise während der Vorstellung das Licht im Saal gedimmt an, Türen werden nicht geschlossen, unter Umständen werden Sitzsäcke bereitgestellt oder Ruhebereiche jenseits des Saals eingerichtet. Das Fünf-Sparten-Haus bietet „Theater entspannt“ in allen Genres an, wobei Musikveranstaltungen – wie etwa das Weihnachtskonzert 2022 – in puncto Lautstärke nur bedingt angepasst werden können.
Inhaltliche Anpassungen von künstlerischen Produktionen um der Inklusion Willen sind umstritten, weil sie der Freiheit der Kunst entgegenstehen können. Mit so genannten „Trigger-Informationen“ versuchen einige wenige Bühnen wie etwa die Staatsoper Hannover, das Publikum vorab über jeweilige Produktionen aufzuklären. So können sich z. B. Menschen mit traumatischen Erlebnissen besser auf das gezeigte Werk einstellen. Ungewollte psychische Reaktionen wie Retraumatisierungen oder auch körperliche Reaktionen wie epileptische Äußerungen können durch jene „Trigger“ ausgelöst werden. Als Trigger gelten etwa dargestellter Mord, gezeigte Gewalt oder Nacktheit, aber auch sensorische Reize wie ein Pistolenschuss oder simulierter Blitz und Donner werden als solche eingestuft.
Vernetzung und Publikumsbindung
An vielen Häusern haben die in den letzten Jahren getroffenen Maßnahmen zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Musiktheater- und Konzertbetrieb ein Umdenken ausgelöst. Inwiefern die Maßnahmen de facto erfolgreich und im Sinne der Publikumsgewinnung jener Zielgruppen fruchtbar sind, lässt sich im Grundsatz und für die Gesamtheit nur schwer beurteilen. An den einzelnen Häusern wird evaluiert, vor allem dort, wo die Maßnahmen im Zusammenhang mit Förderprogrammen stehen. So konnte etwa das Theater Münster über das Programm „Neue Wege“ durch das Ministerium für Kultur und Wissenschaft in Nordrhein-Westfalen und das NRW KULTURsekretariat 2023 eine auf drei Jahre angelegte Unterstützung erhalten, wobei das Theater hier bewusst auf Maßnahmen setzt, Inklusion am Haus voranzutreiben. Unter anderem konnte hierbei die befristete Stelle einer Inklusionsbeauftragten eingerichtet werden. Als erstes Zwischenfazit kann das Theater Münster eine spürbar bessere Kommunikation zu den betroffenen Publikumsgruppen verbuchen, was auch an anderen Häusern bestätigt wird. Seh- oder hörbehinderte Menschen zum Beispiel sind in aller Regel gut vernetzt und finden sich in Communitys ein, die – hat eine Kultureinrichtung hier erst einmal den Kontakt gesucht und gefunden – gute und verlässliche Bindungen ermöglichen. Inwiefern sich diese langfristig in der Publikumsauslastung niederschlagen, ist noch nicht abzusehen.
Um hierüber Klarheit zu bekommen, ist eine Selbstevaluierung an den Häusern unerlässlich. Regelmäßig unternehmen dies beispielsweise die Niedersächsischen Staatstheater Hannover, die in ihrer jüngsten postpandemischen Publikums- und Bevölkerungsstudie 2023 in Hinblick auf Inklusion allerdings ernüchternde Ergebnisse erhalten hat. Der „Zufriedenheitsgrad bei den Angeboten im Bereich Barrierefreiheit“ ist hier unterdurchschnittlich: „Verbesserungsbedürftig erscheinen vor allem auch die Barrierefreiheit in den Gebäuden sowie die Sitzmöglichkeiten in den Foyers.“ [10] Trotz solcher Bilanzen zeigt das Beispiel Hannover nichtsdestoweniger eine gute Richtung an. In früheren Erhebungen zur Publikumsentwicklung wurden die Belange von Menschen mit Behinderung nicht abgefragt. Auch hier hat ein Umdenken stattgefunden.
Footnotes
Vgl. Deutsche Theatertechnische Gesellschaft (Hrsg.): Die Pfosten sind, die Bretter aufgeschlagen. Leitfaden Bau und Sanierung von Kulturbauten, Köln 2019. Online unter: https://dthgev.de/wp-content/uploads/2021/12/Leitfaden_web.pdf (Zugriff: 8. November 2023).
Vgl. Hessisches Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Landesentwicklung (Hrsg.): Anhang zur Broschüre universales barrierefreies Bauen, DIN 18040, Teil 1 und 2, o. O. 2013. Online unter: https://wirtschaft.hessen.de/sites/wirtschaft.hessen.de/files/2021-07/din18040rz_druckbar_juli2014_1.pdf (Zugriff: 8. November 2023).
Vgl. https://www.reisen-fuer-alle.de/startseite_223.html (Zugriff: 8. November 2023).
Recherche zu den 83 öffentlich geförderten Stadt- und Staatstheater in Deutschland. Nach deren eigener Auskunft bieten 15 von ihnen Audiodeskription im Bereich Musiktheater an. Bei weiteren zwei Bühnen ist Audiodeskription in Planung und in einem Fall begrenzt sich Audiodeskription nur auf Schauspiel ohne Musik.
Vgl. Daniela Benker: Wenn aus Bildern Worte werden, in: INTHEGA Kultur-Journal, Heft 2/2023, S. 23. Online unter: https://www.inthega.de/media/download/variant/88473/kultur-journal-2-2023 (Zugriff: 8. November 2023).
Interviews und Stichprobenrecherche zu 60 Stadt- und Staatstheatern in Deutschland.
Vgl. Julie Gebron: Sign the speech: An Introduction to Theatrical Interpreting, 2. Aufl., Hillsboro 2000.
Ein Beispiel ist das von der Sopranistin Susanne Haupt 2020 gegründete Leipziger Ensemble „SING & SIGN“, das Musikkultur und Gehörlosenkultur miteinander verbindet. Hier singen und gebärden Amateure und Profis Vokalwerke von Bach und anderen Barockkomponisten. Vgl. http://singandsign.de/ (Zugriff 8. November 2023).
Die mit einer Hörbehinderung geborene Cindy Klink ist zweisprachig aufgewachsen: zum einen aufgrund ihrer gehörlosen Eltern mit der Deutschen Gebärdensprache, zum anderen mit Deutsch, da sie mittels Hörgeräten hören kann. Cindy Klink übersetzt insbesondere Rockmusik. Vgl. https://mittendrin.fdst.de/cindyklink (Zugriff: 8. November 2023).
Die Stichprobenrecherche zu den öffentlich geförderten Stadt- und Staatstheatern in Deutschland ergab, dass fünf von ihnen „Laute Vorstellungen“ in verschiedenen Sparten, darunter auch Konzert und Musiktheater, anbieten.
Achim Müller, Klaus Siebenhaar: Stadt – Theater – Publikum. Publikums- und Bevölkerungsstudie 2023. Niedersächsisches Staatstheater Hannover. Studien zu Besucher- und Kulturmarktforschung Band 2. Berlin, 2023, S. 41.