Chor in schwarzer und roter Kleidung steht in einem Kirchenschiff verteilt
Das Ensemble VOX BONA der Bonner Kreuzkirche  
Photo:  Christian Palm

Rund 20.000 Vokalensembles sind in Deutschland unter dem Dach der evangelischen Kirche aktiv. In der Bonner Kreuzkirche gibt es gleich zwei Chöre, die mit ihren Konzerten weit über die Stadt hinaus bekannt sind.

Woher die Begeisterung für ihren Beruf kommt, muss man Karin Freist-Wissing nicht fragen: Aufgewachsen in einer Pfarrersfamilie, war sie schon als Kind von Kirchenmusik umgeben. „Das Ungewöhnliche ist bei mir eher, dass ich nicht von der Orgel herkomme, sondern mich zunächst auf andere Instrumente konzentriert habe“, sagt sie, die sich trotz ihrer späten Berufung für die „Königin der Instrumente“ bereits zu Studienzeiten vor allem mit Chor- und Orchesterleitung beschäftigt hat. „Ich bin sehr glücklich, dass ich direkt nach meinem Kirchenmusikstudium eine Stelle bekommen habe, in der genau das meine Hauptaufgabe ist“, sagt sie. Ihren Traumjob hat sie 1990 angetreten. Seitdem organisiert und leitet sie als Kantorin die musikalischen Aktivitäten der Bonner Kreuzkirchengemeinde – eine Arbeit mit vielen Facetten.

An kaum einer anderen Kirche im Rheinland dürfte das Thema Musik so großgeschrieben werden, wie hier an der 1871 gegründeten, mitgliederstärksten evangelischen Gemeinde der ehemaligen Bundeshauptstadt. „Wer sich im Bonner Musikleben auskennt, weiß, welche Rolle wir darin spielen“, sagt die gleichzeitig als Kirchenmusikdirektorin amtierende Kantorin ohne falsche Bescheidenheit. „Wir“, das sind neben der Kantorei der 50‑köpfige Kammerchor VOX BONA und das Sinfonie-Orchester. Hinzu kommen das aus Orchestermitgliedern zusammengesetzte Bläserensemble, die historisch informierte Spezialisten-Formation BONNBAROCK sowie ein Kinder- und ein Posaunenchor, bei deren Einstudierung Karin Freist-Wissing jedoch Unterstützung erhält. Zudem steht ihr mit Stefan Horz ein Kantoren-Kollege zur Seite, der die Orgelmusik an der Kreuzkirche hauptamtlich betreut, einschließlich der Gottesdienste an Sonn- und Feiertagen.

Chor ohne Nachwuchssorgen

„Unser größtes Ensemble ist mit ihren 120 Mitgliedern die Kantorei“, sagt Karin Freist-Wissing. „Während im Kammerchor und im Orchester auch professionelle bzw. semiprofessionelle Kräfte mit an Bord sind, singen hier ausschließlich Amateur*innen.“ Nachwuchsprobleme kennt die Kantorin nicht. Während die evangelischen Kirchenchorvereinigungen in den vergangenen Jahren eher mit Rückgängen bei den Mitgliedern zu kämpfen haben, erhält sie regelmäßig Anfragen von Singwilligen aller Altersstufen und Stimmlagen, die gerne Chormitglied werden möchten. Ihr professioneller Ruf, aber vor allem die Begeisterung, die sie weit über die Region hinaus regelmäßig bei Publikum und Presse entfacht, sind die besten Werbemittel für die Kreuzkirchen-Kantorei.

„Die Vorsingen mache ich immer individuell. Es gibt keine festen Termine. Dabei kommt es mir weniger darauf an, ob die Leute die richtigen Töne singen. Viel wichtiger ist, dass die Stimme bestimmte Eigenschaften besitzt, dass die Sänger*innen zum Beispiel nicht schreien und dass die Intonation stimmt.“ Ebenfalls zu beachten ist die Altersgrenze. „Derzeit liegt das Durchschnittsalter der Kantorei bei 40–50 Jahren, berichtet Karin Freist-Wissing . „Mein Vorgänger hatte kurz vor meinem Amtsantritt ein Limit von 62 Jahren eingeführt, so streng sehe ich das aber nicht. Es gibt viele Leute, die auch im höheren Alter stimmlich noch sehr gut in unseren Chor passen.“ Einmal im Jahr entscheidet ein Vorsingen darüber, ob ein älteres Mitglied weitermachen kann – oder sich vielleicht doch besser in den Ruhestand verabschiedet. Da man weiß, was man der Qualität des Chors schuldig ist, wird dieses Vorgehen von allen akzeptiert. Immerhin geht es um anspruchsvolles Repertoire.

Wie es sich gehört für eine traditionsreiche Kantorei, stehen in der Kreuzkirche regelmäßig die großen Chorwerke Johann Sebastian Bachs auf dem Programm. An Karfreitag eine der beiden Passionen aufzuführen, ist Ehrensache; genau wie das Weihnachts-Oratorium in der Adventszeit. „Das schüttelt man nicht einfach so aus dem Ärmel“, sagt die Kantorin. „Dafür proben wir jedes Jahr sehr intensiv.“ Hinzu kommen andere aufwändige Vokalwerke wie in den vergangenen Jahren Mendelssohns „Elias“ oder – fast schon Pflichtprogramm in der Geburtsstadt des Komponisten – die Missa solemnis von Beethoven. Auch Uraufführungen wie Daniel Schnyders Kirchenoper „Abraham“, bei der die Kantorei 2014 szenisch in Aktion trat, gehören zum Portfolio.

Projekte wie dieses scheinen umso ehrgeiziger, wenn man bedenkt, dass die Ensemblemitglieder allesamt mitten im Berufsleben stehen und neben Arbeit und Familie nur wenig Freizeit zur Verfügung haben. „Soweit ich es überblicke, besteht die Kantorei zu 100 Prozent aus Akademiker*innen. Hier sind die Berufsfelder aber bunt gemischt, da gibt es Leute von der Uni oder von großen ansässigen Firmen, und auch Ärztinnen, Juristen oder Lehrerinnen.“

Teamgeist und offene Gesprächskultur

Geprobt wird jeden Donnerstag zwischen 19.45 Uhr und 22.15 Uhr. „Mein Traum wäre ja, das schwedische Chorprobenmodell einzuführen“, sagt Karin Freist-Wissing. „Man trifft sich bereits um 18.00 Uhr und probt eine Stunde. Danach gibt es ein gemeinsames Essen, und hinterher geht es mit der Probe weiter. Das ist aber mit den deutschen Arbeitszeiten leider nicht vereinbar.“ Auch ohne eingeschobene Abendmahlzeiten achtet die Leiterin darauf, dass der soziale Aspekt des Chorsingens nicht zu kurz kommt. Neben den mehrmals im Jahr stattfindenden, intensiven Probenwochenenden bietet der monatliche „Nachhock“ – ein geselliges Beisammensein nach der Donnerstagsprobe – Gelegenheit, sich auszutauschen und besser kennenzulernen.

Karin Freist-Wissing möchte ihren Chor in künstlerischer Hinsicht zu einer Einheit formen. Eine offene Gesprächskultur hält sie dabei für unabdingbar. „Nur so können wir Missverständnisse und Sachen, die uns stören oder behindern, aus dem Weg schaffen.“ Der Teamgeist unter ihren Chormitgliedern bedeutet für die vielbeschäftigte Kantorin auch in organisatorischer Hinsicht eine enorme Entlastung. „Früher habe ich alles selbst gemacht, von den Terminen bis zur Hotelbuchung.“ Neben einer Mitarbeiterin, die sich fest um die Öffentlichkeitsarbeit kümmert, greift Freist-Wissing heute vor allem auf die unterschiedlichen beruflichen Expertisen ihrer Chormitglieder zurück. „Alle können sich dort einbringen, wo es für sie am besten ist“, erzählt sie. „Die Sängerinnen und Sänger setzen sich in unterschiedlichen Teams von fünf bis acht Leuten zusammen; die einen entwickeln Ideen und die anderen kümmern sich darum, sie umzusetzen.“

Weihnachts-Oratorium im Live-Stream

Wie wertvoll diese Form der Synergiebildung ist, hat sich im Spätherbst des Corona-Jahrs 2020 in besonderer Weise gezeigt. Nach schwierigen Monaten voller Programmlücken sollte das Konzertjahr wie immer mit dem Weihnachts-Oratorium ausklingen; doch der zweite Lockdown ab Oktober drohte das Projekt selbst in einer pandemiekonformen Fassung zum Erliegen zu bringen. Der Abbruch einer fast 75-jährigen Aufführungstradition an der Kreuzkirche war zu befürchten. Doch dann hatten Karin Freist-Wissing und ihre Mitstreiter*innen die Idee mit dem Live-Stream. Am anberaumten Termin kurz vor Weihnachten sollten die Beteiligten in reduzierter Chor- und Orchesterbesetzung in der ansonsten leeren Kirche vor die Kamera treten und ihre Zuhörerschaft zumindest über das Internet erreichen. Da dieses Vorgehen neben den Honoraren für die Profi-Musiker*innen noch weitere Kosten für Technik, aber auch für Corona-Schnelltests nach sich zog, entschloss sich die Kantorei für eine Crowdfunding-Aktion.

Bild
In rotes Licht getauchter Kirchenraum mit Weihnachtsbaum
Live-Stream des Corona-konformen Weihnachts-Oratoriums  
Photo:  privat

„Das war vier Wochen vor dem Konzert“, erinnert sich Karin Freist-Wissing. „Sofort haben die Chormitglieder neun Teams gebildet, die sich von der Anmeldung bis hin zu technischen Fragen von der Fotoauswahl bis zum Zusammenschneiden von Filmmaterial um alles Mögliche gekümmert haben.“ Dank dieser Arbeitsteilung war die Aktion bereits nach einem Tag im Netz. Hinzu kam die Unterstützung durch lokale und überregionale Medien, sodass die Kreuzkirchen-Kantorei den Crowdfunding-Betrag innerhalb kurzer Zeit zusammenhatte. Auch wenn die nach und nach immer weiter verschärften Lockdown-Regeln dafür sorgten, dass am Ende nur die solistischen Passagen des Oratoriums erklangen, hatten die Chormitglieder Wesentliches für die Aufführung geleistet. Inzwischen hat sich die Situation entspannt  – und so hoffen alle, dass die Kantorei am 18. Dezember 2021 wieder in voller Kraft zum Live-Einsatz kommt: An diesem Tag feiert die Kreuzkirche ihren 150. Geburtstag.

Über den Autor

Stephan Schwarz-Peters arbeitet als freischaffender Journalist und Redakteur u. a. für das Tonhalle Magazin, die Philharmonie Köln sowie die Magazine Rondo und Oper!