Seit Edisons Erfindung des Phonographen 1878 hat sich die Funktion von Tonträgern gravierend verändert. Nach LP, MC, CD und Radio machen heute längst digitale Reproduktionstechnologien die Musik aller Epochen, Stile und Kulturen verfügbar. Warum also noch platzraubende Schallplatten oder CDs sammeln, wo sich doch die gesamte Musikgeschichte bequem überallhin mitnehmen und jederzeit abrufen lässt? Ein Speziallabel für neue Musik wird dadurch aber nicht überflüssig. Im Gegenteil. Gerade die Unmenge an Musik macht heute die sorgfältige Selektion und Edition von Qualität wichtiger denn je. Entscheidend sind die Auswahl von Komponisten, Werken, Interpreten, Einspielungen, Aufnahmetechnik und Einführungstexten mit fundierten Analysen und erhellenden Hintergrundinformationen, die ein Gesamtschaffen oder Einzelwerk sinnvoll kontextualisieren und Zugänge öffnen.

Seit fünfzig Jahren folgt WERGO dem Motto „Klasse statt Masse“. Das hat die Marke (mit dem Namenskürzel ihres Gründers WERner GOldschmidt) zu einem weltweiten Gütesigel neuer Musik gemacht. Die erste Langspielplatte WER 60001 erschien 1962 mit einer Aufnahme von Arnold Schönbergs „Pierrot lunaire“ in einer Einspielung von Helga Pilarczyk mit dem Pariser Ensemble du Domaine musical unter Leitung von Pierre Boulez. Kaum zwanzig Jahre nach Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg war dies eine programmatische Ansage. Die wissenschaftlich kommentierte „studio-reihe neuer musik“ sollte die vordem verfemte Moderne von Schönberg, Strawinsky, Bartók und Hindemith wieder zugänglich und zugleich die jüngste Komponistengeneration von Boulez, Nono, Stockhausen, Ligeti, Kagel und Schnebel erstmals einem breiteren Publikum jenseits spezieller Avantgardefestivals, Konzert- und Rundfunkreihen bekannt machen. Wohl wissend, dass man damit nur eine Minderheit erreichen und keine wirtschaftliche Rentabilität erzielen würde, wollte man der flüchtigen Präsenz neuer Musik im Radio zu bleibender Dauer auf Schallplatte verhelfen und den Hörern Gelegenheit geben, sich durch wiederholtes Hören intensiver mit den Novitäten auseinanderzusetzen. Das blieb auch so, als B. Schott’s Söhne 1967 zunächst Teilhaber der „studio-reihe“ wurde und schließlich 1970 das Label komplett übernahm.

Große Bedeutung hatten von Anfang an Ersteinspielungen herausragender Werke der jüngsten Musikgeschichte, die vielfach mit Preisen ausgezeichnet wurden. Seit 1964 bis heute lieferbar sind Karlheinz Stockhausens „Kontakte“ in einer Aufnahme der Uraufführungsinterpreten David Tudor und Christoph Caskel. Bald nach der Kölner Premiere von Bernd Alois Zimmermanns Totaltheater „Die Soldaten“ 1965 kam auch eine Schallplatte dieses als unaufführbar abgestempelten Jahrhundertwerks heraus. Später folgten beispielsweise Luigi Nonos „La fabbrica illuminata“, Hans Werner Henzes neoexpressive „Nachtstücke und Arien“ und frühe Manifeste der Minimal Music von Terry Riley und Steve Reich.

Premiere bei WERGO hatten u.a. auch die Gesamteinspielungen aller acht Sinfonien von Karl Amadeus Hartmann, John Cages „Music of Changes“, Conlon Nancarrows „Studies for Player Piano“ und bis zuletzt im Jubiläumsjahr 2012 Earle Browns legendäre „Contemporary Sound Series“ in einer 18 CDs umfassenden Edition. Inzwischen ist die Zahl der Veröffentlichungen auf rund 600 CDs angewachsen.

Als eines der ältesten und renommiertesten Labels neuer Musik wirkt WERGO im Dickicht der in zahllose Untersparten zersplitterten neuen Musik wie ein Kompass. Die hier veröffentlichten Referenzwerke bieten nicht nur ein „Who is Who“ der neuen Musik von Adorno bis Zimmermann, sondern leisten auch einen wichtigen Beitrag zur Herausbildung eines zeitgenössischen Repertoires. Darüber hinaus tragen längst verschiedene Editionsreihen der ästhetischen Ausdifferenzierung Rechnung. ARS ACUSTICA präsentiert rein radiofone Arbeiten, DIGITAL MUSIC DIGITAL Computermusik, die EDITION ZKM elektronische und multimediale Produktionen aus dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, NATURAL SOUND Aufnahmen von Natur- und Tierlauten, WELTMUSIK Musik vor allem aus Afrika, Lateinamerika und Asien. Ganz im Sinne des Pioniergeists der Anfangsjahre von WERGO porträtiert die seit 1986 vom Deutschen Musikrat herausgegebene EDITION ZEITGENÖSSISCHE MUSIK mit bisher über achtzig erschienenen CDs das Schaffen junger deutscher oder in Deutschland lebender Komponistinnen und Komponisten.

Diesen einmaligen Querschnitt des aktuellen Musikschaffens fortzuschreiben bleibt Aufgabe von WERGO, unabhängig davon welche postdigitalen Technologien in Zukunft die Verbreitung und Wahrnehmung von Musik bestimmen werden.

Rainer Nonnenmann

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