In der Universitätsbibliothek Leipzig wurde am 5. Oktober eine knapp 500 Jahre alte Chorhandschrift aus Wittenberg erstmals öffentlich präsentiert. Die wertvolle Notenhandschrift stammt laut Forschungsergebnissen aus der Zeit um 1530. Sie ist damit der bisher früheste Beleg aus der gelebten Praxis des reformatorischen Kirchen- und Chorgesangs in Wittenberg. Die Handschrift ist ab 13. Oktober 2017 bis 07. Januar 2018 in der Ausstellung "Geist aus den Klöstern" in der Bibliotheca Albertina öffentlich zu besichtigen.
Seit etwa 1521 kam es an verschiedenen Orten im deutschsprachigen Gebiet zur Einführung neuer Formen des Gottesdienstes mit deutschsprachigen Anteilen in Wort und Lied, im Sinne der Reformation. Dieser Prozess wurde von Wittenberg aus zentralisiert und vereinheitlicht, vor allem für den mittel- und norddeutschen Raum.
"Mitten in diesen liturgiegeschichtlichen Umbruchprozess führt das bei uns neu identifizierte Doppelblatt aus einer großformatigen Pergamenthandschrift, das der Forschung bislang offenbar noch nicht bekannt ist", sagt Prof. Dr. Ulrich Johannes Schneider, Direktor der UB Leipzig. Es setzt im Aussehen die Tradition spätmittelalterlicher Chorhandschriften fort, weist aber als Neuerung auch deutschsprachige Gesänge auf. Das Fragment hat sich als neuzeitliche Einbandhülle erhalten und ist heute Teil der Fragmentsammlung der UB Leipzig mit der Signatur Deutsche Fragmente 82. Es erlaubt einen einmaligen Einblick in den Chorgesang bei den evangelischen Gottesdiensten in Wittenberg.
Großzügig sind in einem Schriftraum von 26 x 20 cm jeweils sieben Notenzeilen mit Hufnagelnotation auf einem roten Vier-Linien-System und mit darunter verlaufender Textzeile untergebracht. Als Schriftart ist eine anspruchsvolle, sorgfältig ausgeführte gotische Textura verwendet, die zahlreiche Zierelemente enthält. Hinzu kommt ein teils mehrfarbiger Initialschmuck, dessen Gestaltung je nach Gesang variiert und so die einzelnen Stücke optisch in sich abschließt.
"Die historische Einordung des Fragments basiert im Wesentlichen auf den Textpartien, die das Doppelblatt enthält. Eine genauere zeitliche Bestimmung ist dabei anhand von Textvarianten möglich, die sich Luthers Arbeit an der Bibelübersetzung aus dem Zeitraum 1526 bis 1530 zuordnen lassen", erläutert Dr. Christoph Mackert, Leiter des Handschriftenzentrums der Universitätsbibliothek. Die sich daraus ergebende Datierung um 1530 wird durch übereinstimmende Festlegungen in der Wittenberger Kirchenordnung von 1528/33 bestätigt. Das Fragment kann damit als frühestes bislang bekanntes Zeugnis aus der gelebten Praxis des durch Luther "reformierten" Gottesdienstes im "Epizentrum" der Reformation gelten.