Konzert in einer vollbesetzten Kirche beim Festival Europäischer Kirchenmusik Schwäbisch Gmünd 2018.
Festival Europäische Kirchenmusik Schwäbisch Gmünd 2018  
Foto:  Hartmut Hientzsch

Hinter den Begriffen Kirchenmusik und Musik in Religionen eröffnet sich eine große Bandbreite kultureller Vielfalt und historischer Dimensionen. Es zeigen sich Querverbindungen in nahezu alle gesellschaftlichen Lebensbereiche.

„Jauchzet Gott in allen Landen“

„Kirchenmusik – Musik in Religionen“ – allein der Titel des neuen Themenportals zeigt deutlich, welche Vielfalt sich neben dem angestammten Begriff der Kirchenmusik in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Mit seinem thematischen Angebot eröffnet das Deutsche Musikinformationszentrum (MIZ) erstmalig den Blick auf eine kulturell-religiöse Landschaft, deren prägendes Merkmal die Diversität ist. Neben der Musik in der evangelischen und katholischen Kirche wird auch geistliche Musik im Judentum und im Islam sowie in den orthodoxen Kirchen betrachtet. Damit wird nicht nur dem soziodemographischen Wandel in unserer Gesellschaft Rechnung getragen, sondern auch ihre kulturelle und religiöse Vielfalt verdeutlicht. Diese umfassende und systematische Aufarbeitung des kirchenmusikalischen Lebens in Deutschland kann dazu beitragen, die ganze Bandbreite und die Bedeutung kirchenmusikalischen Wirkens für unsere Gesellschaft in einer neuen Dimension zu vermitteln.

 „Jauchzet Gott in allen Landen“ lässt Johann Sebastian Bach den Solosopran in seiner Kantate BWV 51 singen. Diese Textzeile kann gleichsam als Motto für das Gemeinsame gleich welcher Glaubensgemeinschaft stehen. Das Entdecken von Gemeinsamkeiten ist der „Beifang“ in der Wahrnehmung des je Anderen, des Unbekannten, des Fremden. Unterschiede zu erkennen, zu akzeptieren und vielleicht auch schätzen zu lernen, ist die Voraussetzung für das Entdecken von Gemeinsamkeiten. Eine Botschaft, die der Deutsche Musikrat im Jahr 2006 mit seinem 2. Berliner Appell formuliert hat.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist das zentrale Thema nicht nur in diesen Tagen in unserer Gesellschaft. Demographischer Wandel, Migration, digitales Zeitalter und die zunehmende Ökonomisierung nahezu aller gesellschaftlichen Lebensbereiche markieren einige Wegpunkte gesellschaftlicher Entwicklung, die Chancen und Herausforderungen für den Erhalt und die Förderung der kulturellen Vielfalt beinhalten.

Unterschiede zu erkennen, Trennendes anzuerkennen und auszuhalten und Gemeinsamkeiten zu suchen und zu leben, sind essentielle Merkmale einer offenen Gesellschaft, die die Freiheit der Künste schützt und Kultur als Treiber gesellschaftlicher Entwicklungen versteht. Die geistliche Musik ist autonom und zugleich Treiber gesellschaftlicher Entwicklungen – auch, aber nicht nur als essentieller Teil der Verkündigung.

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Der türkische Musiker Nuri Karademirli (1950–2013) und Gründer des Privaten Konservatoriums für türkische Musik gibt ein Konzert mit traditionellem türkischen Instrument.
Nuri Karademirli (1950–2013), türkischer Musiker und Gründer des Privaten Konservatoriums für türkische Musik  
Foto:  Daniela Incoronato

Neuer Blick auf die Kirchenmusik

Das MIZ öffnet mit seinem Portal „Kirchenmusik – Musik in Religionen“ nicht nur die zahlreichen Fenster zu einer beeindruckenden Bandbreite kultureller Vielfalt, sondern schärft in der Gesamtkonzeption den Blick für Zusammenhänge und damit das Entdecken von Unterschieden und Gemeinsamkeiten. So eröffnen sich neue Sichtachsen und lassen sich alte und neue Querverbindungen in nahezu alle gesellschaftlichen Lebensbereiche finden. Gerade weil in der medialen und politischen Kommunikation oftmals die Kleinteiligkeit den Blick auf die Zusammenhänge verstellt, sind im digitalen Zeitalter Glaubwürdigkeit, Orientierung und das Aufzeigen von Zusammenhängen in der Bewusstseinsbildung von Bürgerinnen und Bürgern besonders wichtig. Diese drei Grundsäulen verlässlicher und unabhängiger Information erfüllt das MIZ mit seinem Angebot.

Das Themenportal behandelt Grundsatzthemen, beschäftigt sich mit Institutionen und Einrichtungen des kirchenmusikalischen Lebens, stellt Statistiken und topografische Darstellungen zur Verfügung, informiert über Termine und Fristen und bietet weiterführende Informationen. Neben vertiefenden Einblicken in die Musikwelten der beiden Konfessionen und der Glaubensgemeinschaften werden Spannungsfelder etwa zum Verhältnis von geistlicher Musik als Teil der Verkündigung und Teil des Konzertlebens innerhalb und außerhalb kirchlicher Räume ausgelotet. Informationen über die Rahmenbedingungen kirchenmusikalischen Lebens, die Ausbildungsgänge für den Beruf der Kirchenmusikerin bzw. des Kirchenmusikers, der weite Bogen zwischen kirchlichem Laienmusizieren und professioneller Musikausübung sind ebenso Gegenstand der Betrachtungen wie Literaturhinweise zum interreligiösen Dialog, der Popularmusik, der Neuen Musik oder der Orgel als dem zentralen Instrument kirchenmusikalischen Lebens – um nur einige Beispiele aus dem breitgespannten Themenangebot zu nennen.

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Chor der Stadtpfarrkirche St. Blasius
Chor der Stadtpfarrkirche St. Blasius  
Foto:  Rudolf Nabjinsky

Die Zahlen verdeutlichen, wie tief kirchenmusikalisches Leben unsere Gesellschaft durchdringt: Mehr als 900.000 Laienmusizierende sind in der evangelischen und katholischen Kirche aktiv, 3.300 hauptamtliche Kantoren versehen täglich ihren Dienst, 560 Kirchenmusik-Studierende bereiten sich auf ihren künftigen Einsatz vor, und neben den rund 50.000 Orgeln in Deutschland gibt es etwa 300 Orgelbaubetriebe – insgesamt ist dies eine kirchenmusikalische Infrastruktur, die in dieser Dichte international ohne Beispiel ist. Kirchenmusikalisches Leben reicht zudem weit über kirchliche Räume hinaus: Kinder und Jugendliche lernen oft in ihren Gemeinden die Welt der Musik kennen, Konzerte locken kulturinteressiertes Publikum, kirchliche Angebote stellen eine wichtige Ergänzung im Gesamtspektrum der Aus-, Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten in Deutschland dar. Und nicht zuletzt ist Kirchenmusik ein bedeutender Faktor in der Musikwirtschaft.

Diese insgesamt ermutigende Bilanz kirchenmusikalischen Wirkens in unserer Gesellschaft wird jedoch durch gesellschaftliche Entwicklungen begleitet, die die kulturelle Vielfalt gefährden. Kreatives Schaffen wird zu wenig wertgeschätzt, bis zu 80 Prozent des Musikunterrichts in Grundschulen fallen aus, über 100.000 Schülerinnen und Schüler stehen auf den Wartelisten der kommunalen Musikschulen, Kürzungen und Schließungen verkleinern die professionelle Chor- und Orchesterlandschaft – dies und mehr sind negative Kontrapunkte zum Bild des blühenden Musiklands Deutschland.

Daraus ergeben sich Forderungen für die Zukunft. Die Notwendigkeit, das Bewusstsein für den Wert der Kreativität und des kreativen Schaffens wie auch kulturellen Vielfalt zu schärfen, unterstreicht die Beauftragte für Kultur und Medien, die Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin Prof. Monika Grütters in ihrem Grußwort zu diesem Portal. Ihre Hoffnung nach „mehr Aufmerksamkeit und Wertschätzung für die Kirchenmusik“, die sie mit dem neuen Portal im MIZ verbindet, ist eine gesamtgesellschaftliche Handlungsaufforderung.

Auf die weite Verzweigung kirchenmusikalischen Lebens in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen weist ebenfalls der Präsident des Deutschen Musikrats, Prof. Martin Maria Krüger hin. Anlässlich der Präsentation des neuen Angebots unterstreicht er, dass die Kirchenmusik nicht nur Teil der kirchlichen Verkündigung sei, sondern in hohem Maße unsere Bildungs- und Kulturlandschaft präge. Auch der Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ vom Dezember 2007, der zahlreiche, noch nicht umgesetzte Handlungsempfehlungen an den Deutschen Bundestag und die Länder enthält, stellt zur Kirchenmusik fest: „Die christlichen Kirchen Deutschlands tragen mit ihren Chören und Musikensembles […] wesentlich zum kulturellen Leben in unserem Land bei. Sie gehören zu den zentralen kulturpolitischen Akteuren Deutschlands.“ Deutlich wird dieser Befund ebenfalls in weiteren Dokumenten, wie zum Beispiel der Resolution des Deutschen Musikrats „Einheit durch Vielfalt – Kirche macht Musik“ (2010), der Resolution der Arbeitsgruppe Kirchenmusik im Deutschen Musikrat „Vorfahrt für die Musik“ (2012) oder der Veröffentlichung des Deutschen Kulturrats „Die Kirchen, die unbekannte kulturpolitische Macht“ (2007). All diese Dokumente und noch vieles mehr finden sich in den weiterführenden Informationen dieses Portals.

Herausforderungen und Potenziale für die Zukunft

In der Gesamtbetrachtung der kirchenmusikalischen Landschaft und der dokumentierten Erkenntnisse und Forderungen wird deutlich, dass die gesellschaftliche Bedeutung und Wirkung kirchenmusikalischen Lebens für den gesellschaftlichen Zusammenhalt viel tiefgreifender ist, als sich dies in der öffentlichen Wahrnehmung widerspiegelt. Daher lautet die zentrale Forderung des Deutschen Musikrats an die Akteure in den konfessionellen Kirchen, den Glaubensgemeinschaften, den korrespondierenden Kultur- und Bildungseinrichtungen und den politischen Entscheidungsträgern auf allen föderalen Ebenen, die völkerrechtlich verbindliche „UNESCO-Konvention zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen“ als Berufungs- und Handlungsgrundlage bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen einzusetzen. Mit ihren drei Grundsäulen – dem Schutz und der Förderung des kulturellen Erbes, der zeitgenössischen künstlerischen Ausdrucksformen (einschließlich der Jugendkulturen) und anderer Herkunftskulturen – ist diese Konvention ein kulturpolitisches Handlungsinstrument vor Ort wie auf Länder- und Bundesebene. Die kreativen Potenziale sind in unserem Land bei Weitem nicht ausgeschöpft, geschweige denn entdeckt.

Kirchenmusik ist Verkündigung und kulturelles Erleben zugleich. In der ausgewogenen Balance zwischen Gottesdienst und Konzertsaal kann die Kirche im Verbund mit ihren seelsorgerischen und sozialen Aufgaben wieder zum gesellschaftlichen Treffpunkt ihres jeweiligen Wirkungskreises werden, wenn sie ehrenamtliche Mitwirkung am Gemeindeleben durch eine adäquate Hauptamtlichkeit professionell grundiert.

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Foto:  Hartmut Hientzsch  /  Festival Europäische Kirchenmusik Schwäbisch Gmünd

Bleibt zu hoffen, dass die UNESCO-Konvention Kulturelle Vielfalt ihre intendierte Wirksamkeit vor Ort – auch und gerade in den Kirchengemeinden – stärker als bisher entfalten kann. Es bleibt außerdem zu hoffen, dass die Kirchen die Herausforderungen in Bezug auf die zeitgenössischen künstlerischen Ausdrucksformen kreativ annehmen, ohne das reiche kulturelle Erbe zu vernachlässigen. Professionell anspruchsvoller Einsatz von Popularmusik sollte dem Nachlaufen hinter vermeintlichen Modeströmungen vorgezogen werden. Das uralte und offenbar ewig währende Konkurrenzverhältnis zwischen Wort und Musik wiederum sollte sich im Sinne des „Concertare“ um jeweilige Exzellenz bemühen – und nicht durch eine strukturbedingte Unwucht in der Kirchenhierarchie die Freiheit und damit Wirksamkeit der Musik beschränken.

Und schließlich bleibt zu hoffen, dass der transkulturelle Dialog auch und gerade durch die Musik vorangetrieben wird. Die Kirchen und Religionen sollten mit der Kraft der Musik ihren Beitrag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt leisten, Neugier wecken, mit Herz und Verstand den unermesslichen Reichtum der geistlichen Musik für sich (wieder) entdecken. Kirchenmusik kann neue Wege zu sich selbst und in der Wahrnehmung des Anderen, des Unbekannten, des Fremden eröffnen und in diesem Wirkungsgeflecht zur Selbstvergewisserung beitragen.

Redaktionelle Anmerkung
Der Beitrag entstand 2017 im Rahmen der Erstveröffentlichung eines neuen Themenportals beim Deutschen Musikinformationszentrum: "Kirchenmusik - Musik in Religionen". Das Themenportal wurde inzwischen überarbeitet und findet sich auf den Seiten des miz in neuer Form.

Über den Autor

Prof. Christian Höppner ist Generalsekretär des Deutschen Musikrats, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Kirchenmusik im Deutschen Musikrat und Präsident des Deutschen Kulturrats.