„Weniger schlecht ist noch lange nicht gut“ – diese Erkenntnis hat sich die in Berlin angesiedelte Nichtregierungsorganisation Cradle to Cradle zu Herzen genommen und arbeitet daran, ökologischen Problemen und allem, was daran hängt, mit langfristigen Lösungen zu begegnen. Aus diesem Grund versucht der 2012 gegründete und eingetragene Verein, seine innovativen Ideen für eine nachhaltige Zukunft durch Bildungsarbeit, das Anstoßen von Transformationsprojekten und intensive Vernetzung mit verantwortlichen Kräften aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Kultur in die Gesellschaft hineinzutragen. Grundlage bildet das gleichnamige Prinzip Cradle to Cradle (C2C), sinngemäß übersetzt „vom Ursprung zum Ursprung“, das den Ansatz verfolgt, biologische, technische und soziale Ressourcen in einem fairen Kreislaufsystem zu halten. Am Ende soll dabei die Natur das zurückerhalten, was man ihr genommen hat, und der Mensch von einer zerstörerischen Abgas- und Abfallschleuder zum Bewahrer, sogar zum Förderer seines Heimatplaneten werden.
C2C lässt sich nicht nur auf Naheliegendes wie den Straßenverkehr oder die Produktion industrieller Güter anwenden. Auch die Musikbranche kann sich etwas abschauen von der Idee– was sie vor allem bei Großveranstaltungen wie Konzerten oder Festivals in Ansätzen auch schon tut: Vielerorts bemüht man sich, klimaschädliche Emissionen soweit es geht zu reduzieren; durch Wiederverwertungskreisläufe werden Ressourcen geschont und riesige Müllberge zumindest etwas kleiner gehalten. Wie es vielleicht noch besser geht, konnten Veranstalter und Publikum bei einem Feldversuch (im wahrsten Sinne des Wortes) sehen, den die Cradle to Cradle NGO auf dem Gelände des Tempelhofer Felds in Berlin unternommen hat – zusammen mit den Veranstaltungsprofis der KKT GmbH, der Loft Concerts GmbH, der Side by Side Eventsupport GmbH und einer Vielzahl an Zulieferer*innen und Gastronom*innen. Einst Flughafen, heute Freizeitareal für Hauptstädter*innen, ist der Ort selbst so etwas wie ein gigantisches Recyclingprojekt. Im August 2022 fanden hier drei Konzerte unter dem Motto „Labor Tempelhof“ statt, bei denen das C2C-Prinzip möglichst konsequent auf alle Aspekte angewandt wurde, die bei Veranstaltungen dieser Art zum Tragen kommen.
Um die für den „Versuchsaufbau“ notwendige Masse an Publikum mussten sich die Organisatoren kein Sorgen machen, hatten sie doch mit den „Ärzten“ und den „Toten Hosen“ zwei mehr als zugkräftige Bands am Start, die für eine entsprechende Anzahl an Besucher*innen sorgten. Angesichts der rund 60.000 Menschen, die zu jedem der Konzerte gekommen waren, kann die C2C-Projektmanagerin Jonna Clasen mit Recht feststellen: „Das Labor Tempelhof hat gezeigt, dass kreislauffähige Veranstaltungen auch in diesen Dimensionen möglich sind.“ Demnächst sollen die Ergebnisse der Evaluierung vorliegen. Bereits auf den Konzerten bot sich interessierten Veranstaltern die Möglichkeit, C2C-Ideen für ihre eigenen Konzerte zu sammeln. Auch die Besucher*innen konnten neue Erkenntnisse zu diesem Thema mit nach Hause nehmen, dank des umfassenden Infokonzepts, mit dem das Labor Tempelhof seine Maßnahmen in Bezug auf Kreislaufwirtschaft und Nachhaltigkeit am Rande der Konzerte erläuterte. „Das Publikum ist ein ganz wichtiger Bestandteil des C2C-Prinzips“, sagt Jonna Clasen. Ohne bevormundend einzuwirken, wolle man ein Bewusstsein für die Aspekte der Nachhaltigkeit auch im Freizeitbereich schaffen. Und von ihnen gibt es einige zu beachten.
Das Spektrum reicht von der Energiegewinnung und dem Wasserverbrauch über Mobilität und den gastronomischen Service bis zur Herstellung von Druckerzeugnissen und das allseits beliebte Merchandising. Für all diese Bereiche eine C2C-Lösung zu finden, ist nicht zuletzt aufgrund von derzeit noch mangelnden Angeboten kaum möglich. Doch Katrin Wipper, Mitbegründerin von The Changency – Agentur für nachhaltigen Wandel und Mitorganisatorin von „Labor Tempelhof“ im Auftrag von SBS Eventsupport, betont: „So gravierend, wie man vielleicht meint, sind die Unterschiede in der Veranstaltungsvorbereitung nicht. Ob ich jetzt nach dem günstigsten oder nach dem nachhaltigsten Anbieter recherchiere, kommt vom Aufwand her aufs Gleiche heraus. Es ist vor allem mit einer Verhaltensänderung verbunden.“ Wo immer eine komplett kreislauffähige Umsetzung nicht möglich war, etwa beim An- und Abtransport der Bühnenelemente oder des Equipments, wurde auf die derzeit beste ökologische Alternative zurückgegriffen – in diesem Fall beispielsweise auf batteriebetriebene E-Gabelstapler und Lastenfahrräder. „Zum großen Teil konnten wir unsere C2C-Ziele verwirklichen“, sagt Jonna Clasen stolz; wo nicht, wird ihrer Meinung nach in absehbarer Zeit die technische Entwicklung weiterhelfen. „Es ist ein Versuch, der andere inspirieren und zeigen soll, was jetzt schon möglich ist.“
Da wäre zum einen die 100-prozentige Nutzung von Öko-Strom von den Berliner Stadtwerken, der im Vergleich zur herkömmlichen Alternativen 310 g CO2 pro Kilowattstunde einspart; zudem fördert er indirekt den Ausbau regenerativer Energiequellen, da die durch ihn gewonnenen Einnahmen vom Anbieter in entsprechende Projekte reinvestiert werden. Auch umweltschonender HVO-Kraftstoff aus hydriertem Pflanzenöl kam beim Betrieb bestimmter Anlagen zum Einsatz, die aus Sicherheitsgründen autark betrieben werden müssen. Apropos CO2: 60.000 Menschen bei einem Konzert willkommen zu heißen, ist zwar eine schöne Sache, kann aber auch eine Menge umweltschädlichen An- und Abreiseverkehr verursachen – zumindest, wenn alle das Auto nehmen. Dann doch lieber auf den öffentlichen Nahverkehr zurückgreifen. „Die Zusammenarbeit mit den Berliner Verkehrsbetrieben gehört zu den wesentlichen Punkten unseres Mobilitätskonzepts“, sagt Jonna Clasen, „in jedem Ticket, das wir für die Konzerte verkauft hatten, war gleichzeitig auch ein ÖPNV-Ticket enthalten. Außerdem haben die Veranstaltenden einen riesigen, kostenfreien und bewachten Fahrradparkplatz zur Verfügung gestellt.“
Mülltrennung, möchte man meinen, sei einer der klassischen Fälle des C2C-Prinzips. Recyclingfähigkeit in dem Sinne, dass Abfälle sortenrein in ihre Einzelbestandteile oder einzelne Rohstoffe getrennt werden könnten, garantiert sie aufgrund von Mischmaterialien, Farbstoffen oder anderen Zusatzstoffen derzeit aber noch nicht, C2C ist hier noch auf der Suche nach einer überzeugenden Lösung. Gleichwohl ist Mülltrennung eine sinnvolle Sache, weshalb die Veranstaltenden auf dem Konzertgelände 25 sogenannte „Nährstoffinseln" aufstellen ließen, an denen die unterschiedlichen Tonnen und Behältnisse für Biomüll, Restmüll und PET gekennzeichnet waren. Freiwillige standen bereit, um das Trennungsprozedere zu erläutern. Freilich dürfte es nicht leicht gewesen sein, auf dem Veranstaltungsgelände etwas zum Befüllen zu finden. Wegwerfartikel wie Plastikbecher oder Glasflaschen (bei Konzerten dieser Größenordnung ohnehin verboten) wurden gar nicht erst ausgegeben, pro Besucher*in war die Mitnahme einer PET-Flasche mit Wasser erlaubt. Serviert wurde auf biologisch abbaubarem Geschirr aus nachwachsenden Rohstoffen – und wer es nicht glauben wollte, konnte sich anhand der eigens angemieteten 24-Stunden-Kompostieranlage persönlich davon überzeugen: Während das Publikum ausgelassen feierte, leisteten Millionen von auf Sägespänen ausgebrachten Mikroorganismen Schwerstarbeit, indem sie Teller und Speisereste in nährstoffreichen Rohkompost verwandelten. In diesem Fall ein Anschauungsobjekt, das zwar nicht den gesamten Müll der Konzerttage beseitigte – aber auf beeindruckende Weise demonstrierte, was jetzt schon möglich ist.
Auch an anderen Stellen erwiesen sich die einzelligen Wesen als wichtige Stützen bei der Umsetzung des C2C-Prinzips. Etwa im Vorfeld bei der Herstellung des aus Brotresten gebrauten Biers, aber auch im „Nachgang“, bei der Zersetzung von Ausscheidungen, die beim „Labor Tempelhof“ nicht nur von – selbstverständlich mit biologisch abbaubaren Stoffen arbeitenden – Chemie-, sondern auch von technisch ausgefeilten Trockentoiletten aufgefangen wurden: Neben einer eklatanten Wasserersparnis lieferten sie einen wertvollen Beitrag für einen aktiven Stoffkreislauf. Was hier an festen Reststoffen zurückbleibt, wurde im Rahmen des Forschungsprojekts „ZirkulierBar“ in Eberswalde zu Humus kompostiert. Aus dem Urin wurde, ebenfalls in einer Pilotanlage in Eberswalde, Phosphor zurückgewonnen und zu Flüssigdünger verarbeitet. Am Ende konnten so aus mehr als 80 Prozent der aus den Toiletten gewonnenen Nährstoffe zurück in den Kreislauf geführt – nicht allein durch die Komposttoiletten, sondern durch das Sanitärkonzept insgesamt. Dass die Speisen, die am Anfang dieses Kreislaufs stehen, hauptsächlich vegetarisch und sogar vegan waren, bedarf aus Nachhaltigkeitssicht keiner besonderen Erklärung.
„Ganz auf tierische Produkte konnten wir fürs erste aber noch nicht verzichten“, sagt Jonna Clasen, mit Blick auf die Bedürfnisse des Publikums. Immerhin: Die Verpflegung der Bands und der gesamten Mannschaft hinter den Kulissen war rein vegan-vegetarisch. „Mit den Ärzten und den Toten Hosen hatten wir allerdings auch zwei Acts, die das Konzept 100-prozentig mitgetragen haben“, sagt Katrin Wipper. Das habe man auch an der Kommunikation mit dem Publikum gemerkt. Am Ende des „Labor Tempelhof“ steht nun die Auswertung in Form eines mehrsprachigen digitalen Guide-Books, das anderen Veranstalter*innen zum Vorbild dienen kann. Ein weiteres Informationsangebot bietet die für 2023 geplante Ausstellung über das Projekt sowie eine Transformationsplattform, die Interessierten Gelegenheit gibt, sich zu vernetzen und Erfahrungen auszutauschen.