Mehr als sechs Jahrzehnte lang war das Archiv des Internationalen Musikinstituts Darmstadt (IMD) ein Präsenzarchiv für Eingeweihte. Nach sechs Jahren intensiver Digitalisierungsarbeit fällt das 70-jährige Jubiläum der Darmstädter Ferienkurse 2016 mit der weitgehenden Archiv-Erschließung und der damit möglichen internetbasierten Recherche zusammen. Bevor das seit 2010 umfangreich digitalisierte IMD-Archiv der Öffentlichkeit vorgestellt wird, zeigen die Darmstädter Ferienkurse neue Werke von Künstler*innen, die unter dem Motto "Performing the Archive“ im Auftrag des IMD mit den Archivmaterialien gearbeitet haben.
Originale Korrespondenz berühmter Komponisten und Theoretiker, Aufnahmen legendärer Vorträge und Aufführungen, Partituren, eine Sammlung seltener Fotos und Filmmaterial standen dem norwegischen Komponisten Lars Petter Hagen für seine Konzert-Installation zur Verfügung. Archive Fever ist eine subjektive Begegnung mit dem Ferienkurs-Erbe, die persönliche Erforschung seiner Identität, seiner Vergangenheit und Gegenwart. Mit einem Parcours, der am 6. August um 18:30 Uhr im Justus Liebig-Haus vom Ensemble Interface eröffnet wird, unternimmt Hagen den Versuch, eine geradezu taktile Präsenz der Darmstadt-Geschichte erlebbar zu machen.
Auch das von Michael Rebhahn kuratierte und mit dem Goethe-Institut geplante transnationale Projekt historage initiierte die Entstehung einer Reihe von Kunstwerken, die sich mit Historie und Historizität der Ferienkurse befassen. Entstanden sind künstlerische Beiträge aus sieben Ländern in Afrika, Nord- und Südamerika, Asien und Europa von Multimedia-Performances, über Klang- und Videoinstallationen bis hin zu einem Gender-Diskursforum und einem Call for Remixes.
Samson Young aus Hongkong realisierte für historage den Film Notational Tendencies and PerformanceProcesses: ein dramatisches Re-Enactment einer Lecture des amerikanischen Komponisten Earle Brown, die er 1964 bei den Darmstädter Ferienkursen gegeben hat. Brown sprach hier von der "kulturellen Verantwortung" notationaler Praxis. In Youngs Film umkreist die Kamera den Schauspieler Michael Schiefel langsam für die Dauer einer Stunde, wobei sie kontrastierende Perspektiven zwischen der Performance und dem Raum des Geschehens preisgibt. Stockhausen and Biko in Johannesburg ist eine dreifache Videoprojektion mit Multikanal-Soundtrack des südafrikanischen Künstlers Philip Miller. Seine Arbeit versteht sich als ein imaginierter Dialog zwischen dem Black-Consciousness-Aktivisten Steve Biko und Karlheinz Stockhausen, der im März 1971 den Zusammenschluss der Townships für die schwarze Bevölkerung von Johannesburg besucht hatte. Das Ensemble Distractfold aus Manchester, Kranichsteiner Musikpreisträger 2014, schrieb für historage einen Open Call aus: Junge Komponist*innen, Klangkünstler*innen und Elektronik-Produzent*innen wurden dazu eingeladen, Remixes, also Umarbeitungen von oder Antworten auf Archivaufnahmen aus 70 Jahren Darmstädter Ferienkursen einzureichen. Aus über 60 Einreichungen hat Distractfold zehn Arbeiten ausgesucht, die auf einer CD in limitierter Edition veröffentlicht und im Rahmen einer Release-Party am 6. August bei den Darmstädter Ferienkursen präsentiert werden.
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