Nach 21 Monaten Projektlaufzeit präsentierten gestern Wissenschaftler der Bremer Materialprüfungsanstalt (MPA) und des Fraunhofer IFAM Ergebnisse aus dem Pilotprojekt "Korrosionsprobleme an historischen Orgeln im Gebiet der Metropolregion Bremen-Oldenburg“. Das Projekt unter Leitung des Arp-Schnitger-Instituts für Orgel und Orgelbau beschäftigte sich mit den in bedrohlicher Weise zunehmenden Korrosionsschäden an historischen Orgeln.
Der Nordwesten Deutschlands bietet mit seiner weltweit höchsten Dichte an spielbaren historischen Orgelinstrumenten einen einzigartigen kulturgeschichtlichen Schatz. Doch dieser ist seit den vergangenen Jahrzehnten einer starken Bedrohung ausgesetzt: Korrosion und Schimmel zerstören die Jahrhunderte alten Orgelpfeifen. Damit ist ein unersetzbares Kulturgut in großer Gefahr, denn diese Instrumente bilden das Klanggedächtnis unserer Region. Sie bieten dem heutigen Zuhörer die einzigartige Chance nachzuerleben, wie Musik vor vierhundert Jahren klang. Im Rahmen eines Pilotprojekts unter der Leitung des Arp-Schnitger-Instituts für Orgel und Orgelbau an der Hochschule für Künste Bremen haben Mitarbeiter des Fraunhofer IFAM gemeinsam mit der Amtlichen Materialprüfungsanstalt Bremen mögliche Ursachen dieser Korrosion am Beispiel zweier Orgeln erforscht. Das Ergebnis: Essigsäure und hohe Luftfeuchtigkeit machen den Pfeifen zu schaffen.
Während der Projektlaufzeit vom 01.10.2013 bis 20.6.2015 untersuchte ein Team aus Materialwissenschaftlern der MPA Bremen und des Fraunhofer IFAM exemplarisch zwei Orgelinstrumente in Mariendrebber bei Diepholz und in Belum bei Cuxhaven. Maßgebliche finanzielle Unterstützung leisteten dabei die Metropolregion Nordwest, die Senatorin für Bildung und Wissenschaft in Bremen, die Evangelische Landeskirche Hannover sowie zahlreiche betroffene Landkreise und Landschaftsverbände. Für die Materialuntersuchungen entnahmen Dr.-Ing. Andrea Berg und Dr.-Ing. Peter Plagemann vom Fraunhofer IFAM nur kleinste Proben der korrodierten Orgelpfeifen, um möglichst wenig Material der vierhundertjährigen Pfeifen zu entfernen.
Die präparierten Proben wurden anschließend mit licht- und elektronenmikroskopischen sowie oberflächenanalytischen Methoden untersucht. Dabei konnten die Experten eine starke Zersetzung des Materials sowie Löcher am Pfeifenfuß feststellen. Um Hinweise zu den Ursachen der Korrosionen zu erhalten, wurden Teststreifen aus dem gleichen Material, sogenannte Coupons, in die Windladen der Orgeln gelegt. Die Windlade ist ein wesentlicher Bauteil einer Orgel, der den vom Winderzeuger (Gebläse oder Balg) kommenden Wind auf die einzelnen Pfeifen verteilt. Bereits nach zwei Monaten zeigten sich auf den Coupons Spuren von Essigsäure.
"Das Blei der Orgelpfeifen bietet zwar grundsätzlich einen sehr guten Eigenschutz. Bestimmte Stoffe, wie Essigsäure, können das Blei jedoch angreifen und Korrosion sowie irreversible Schäden verursachen“, sagt Plagemann. Aber woher kommen diese Essigsäuren? "In den letzten 30 Jahren wurden viele Orgeln mit frischem Eichenholz und handelsüblichen Klebstoffen restauriert. Das Problem dabei: Beides gibt beim Trocknen Essigsäure ab, die dann mit dem Wind in die Pfeifen gelangt“, sagt Prof. Dr. Manfred Cordes vom Arp-Schnitger-Institut an der HfK Bremen.
Zusätzlich zu den Materialuntersuchungen wurden über die gesamte Projektlaufzeit Klimamessungen in der Kirche und in den Orgelinstrumenten vorgenommen. Durch Sensoren, die in die Windladen der Orgeln eingebaut wurden, konnten genaue Daten über die Temperatur- und Luftfeuchtigkeitsänderungen erfasst werden. Diese Daten zeigten deutlich, dass innerhalb der Orgeln eine konstant hohe Luftfeuchtigkeit besteht. Der Ursprung dieser hohen Luftfeuchtigkeit liegt laut Materialwissenschaftler Herbert Juling von der MPA Bremen in der veränderten Nutzung des Kirchenraums: "Neue Heizsysteme, anderes Heizverhalten und bauliche Veränderungen sind maßgeblich an der verstärkten Korrosion der Pfeifen beteiligt.“
Die Ergebnisse des Projekts lassen keinen Zweifel: Um das historische Kulturgut zu erhalten, müssen die Pfeifen vor der voranschreitenden Korrosion geschützt werden. "Die Korrosionserscheinungen sind derart intensiv, dass in absehbarer Zeit mit dem irreversiblen Verlust der Klangfähigkeit zu rechnen ist“, sagt Berg. Die Projektbeteiligten haben auf Grundlage Ihrer Forschungsergebnisse bereits erste Ansätze zur Verbesserung der Klimaverhältnisse in den Orgeln entwickelt und engagieren sich derzeit in der Einwerbung weiterer Fördergelder um Ihre Forschung fortzuführen. "Dieses Kulturgut zu erhalten, ist eine große Verantwortung für unsere Region. Es müssen Wege gefunden werden, dieses einmalige Erbe für zukünftige Generationen zu bewahren“, sagt Prof. Dr. Hans Davidsson vom Arp-Schnitger-Institut.