Zeitwirbel, Zeitstrudel – vortex temporum: Die richtige Metapher für das Eröffnungsprojekt der 48. Internationalen Ferienkurse für Neue Musik Darmstadt 2016, aber auch ein treffendes Bild für die ereignisreiche Geschichte einer der weltweit wichtigsten Plattformen für die Musik unserer Zeit. Seit 70 Jahren gibt es die Darmstädter Ferienkurse – 1946 wurden sie vor den Toren der damals völlig zerstörten Stadt zum ersten Mal auf Schloss Kranichstein veranstaltet. Sieben Jahrzehnte Darmstädter Ferienkurse – das bedeutet auch: sieben Jahrzehnte mitgestaltete Musikgeschichte. Nahezu alle bedeutenden Namen der Musik nach 1945 sind mit Darmstadt verbunden, ebenso wie die ästhetischen Debatten und zum Teil heftigen Kontroversen über Gegenwart und Zukunft des Komponierens.
Wenn Anne Teresa De Keersmaekers Version von Gérard Griseys Vortex Temporum die Darmstädter Ferienkurse 2016 eröffnet, gastiert das aktuelle Erfolgsstück der gefeierten belgischen Choreografin zum ersten Mal überhaupt bei einem Musikfestival: eine atemberaubende Arbeit für ein Ensemble aus Musikern und Tänzern und eine knapp einstündige künstlerische Reflexion darüber, wie sich Zeit im Raum verdichtet und entfaltet.
De Keersmaekers aktualisierender Zugriff auf die neuere Musikgeschichte setzt den Startpunkt für eine Reihe künstlerisch sehr unterschiedlicher Projekte, die auf das 70-jährige Jubiläum der Ferienkurse Bezug nehmen. Dabei geht es weniger um ein Feiern des Gewesenen, als um künstlerische Antworten auf die Darmstadt-Geschichte und das in den letzten Jahren umfangreich digitalisierte Archiv des Internationalen Musikinstituts Darmstadt: In dem großen, in Kooperation mit dem Goethe-Institut geplanten Projekt historage – 7 places, 7 readings etwa entwickeln Künstler aus sieben Ländern individuelle Lesarten des digitalen Ferienkurs-Archivs – von Performances über Klang- und Videoinstallationen bis hin zu einem Call for Remixes.
Das Abschlussprojekt der diesjährigen Ferienkurse, UN/RUHE – ein choreographisches Konzert mit Sasha Waltz & Guests, der Jungen Deutschen Philharmonie und Geigerin Carolin Widmann nimmt den großen Bogen auf, der mit De Keersmaekers Vortex Temporum begonnen wurde.
In mehr als 65 öffentlichen Veranstaltungen präsentieren die 48. Internationalen Ferienkurse für Neue Musik Darmstadt 2016 etwa 40 Uraufführungen, darunter mehr als zehn Auftragswerke, die eigens für das diesjährige Jubiläumsfestival entstanden sind. Intermediales Komponieren ist immer wieder in Darmstadt thematisiert und diskutiert worden, in diesem Jahr steht das Motto "Music in the Expanded Field“ im Zentrum des Programms, bei denen Performance, Aufführungsraum, Licht, Klangbewegungen, Bewegungen der Besucher und viele andere Faktoren zu einem audiovisuellen Gesamterlebnis werden: Annesley Black entwirft eine Art Reenactment der frühen elektronischen Musikproduktion in Darmstadt. Lars Petter Hagens Live-Installation Archive Fever geht vom Archiv als Gegenstand ästhetischer Erfahrung aus und lässt die Tätigkeiten des Kuratierens und Komponierens ineinanderfließen. In ihrer "Opera for Objects“ The Force of Things verbindet Ashley Fure (Kranichsteiner Musikpreis 2014) instrumentale und elektroakustische Musik, architektonische Gestaltung und Theater zu musikalisch-dramatischen Ereignissen. François Sarhan und ZWERM beleuchten in einer Konzert-Installation die Bedeutung von Arbeitsteiligkeit und Spezialisierung im Bereich der Musik.
Die Darmstädter Ferienkurse 2016 bieten mit über 60 Dozentinnen und Dozenten ein umfangreiches Kurs- und Workshopprogramm an: von Kursen in Komposition und diversen Instrumentalfächern, über Workshops des Atelier Elektronik, einer Schreibwerkstatt für junge Musikjournalist*innen, bis hin zu experimentellen Projekten wie einem Labor für Neue Violinmusik mit Geigerin Patricia Kopatchinskaja (Konzert am 10. August 2016) und dem Komponisten und Turntablisten Jorge Sánchez-Chiong. Etwa 450 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus rund 50 Nationen werden vom 29. Juli bis 14. August 2016 in Darmstadt erwartet.