Mithilfe von Computersimulationen erforschen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der Technischen Universität München (TUM), warum und wie Glocken klingen. Die virtuellen Modelle erlauben neue Glocken-Designs, die auch ungewöhnliche Harmonien erzeugen – beispielsweise einen jazzigen A9-Akkord. Die erste Jazz-Glocke wurde jetzt gegossen.
Die hohe Kunst des Glockengießens erfordert viel Erfahrung: Nur wenn die Gussform exakt die richtige Form hat – oben schmal, unten breit und mit Wülsten an der richtigen Stelle – erzeugt die fertige Glocke ein harmonisches Läuten. Aber warum eigentlich? Ein Team um Lennart Moheit vom Lehrstuhl für Akustik mobiler Systeme der TUM ist dieser Frage auf den Grund gegangen: "Mithilfe der sogenannten Finite-Elemente-Methode lässt sich am Computer darstellen, wie und mit welchen Frequenzen ein fester Körper schwingt. Diese Schwingungen erzeugen den charakteristischen Klang.“
Glocken-Design aus dem Computer
Um diesen zu simulieren, zerlegt das TUM-Team mithilfe von Computerprogrammen die Glocke in viele kleine, virtuelle Würfel – die besagten finiten Elemente. Wenn man dieses dreidimensionale Raster in Schwingung versetzt, bewegen sich die Netzknoten, an denen sich die Ecken der Würfel berühren, auf charakteristische Weise. Die Darstellung gleicht einem verbeulten Hut, dessen Dellen sich rhythmisch hin- und herbewegen.
Der Klang verbeulter Hüte
Neben den Bewegungen der Netzknoten lassen sich auch die Frequenzen ermitteln, die wegen auftretender Resonanzen besonders laut zu hören sind, wenn die Glocke angeschlagen wird: Dominant ist dabei der Grundton, schwächer ausgeprägt sind die Vielfachen dieser Frequenz - Oktaven, Terzen oder Quinten. Die Überlagerung dieser unterschiedlich lauten und unterschiedlich schnell abklingenden Töne erzeugt den charakteristischen Klang.
Um die Modelle zu verifizieren, wurden die Simulationen mit dem Schwingungsverhalten real existierender Glocken verglichen. Dann entwarfen die Forscher und Forscherinnen einen Klang, der die Erwartungshaltung an eine Jazz-Glocke und psychoakustische Empfindungsgrößen berücksichtigt. Ihre Form wurde dahingehend optimiert, dass sie den gewünschten A9-Akkord erzeugt.
Schräge Töne für die Forschung
Die etwa 30 Zentimeter hohe Jazz-Glocke wurde jetzt am TUM-Lehrstuhl für Umformtechnik und Gießereiwesen im Sandgießverfahren gegossen. Ein Glockensachverständiger ermittelte anschließend auf traditionelle Weise mit Stimmgabeln die Resonanzfrequenzen, die mit den Ergebnissen der Computersimulation und präzisen akustischen Messungen verglichen werden können. "Es ist das erste Mal, dass der Sound einer Glocke hinsichtlich strukturdynamischer und psychoakustischer Zielgrößen designt und optimiert wird. Die Möglichkeit, schon einen ersten Entwurf einer virtuell entworfenen Glocke dann direkt auf dem Campus der TUM gießen zu können und einem Realitätscheck zu unterziehen ist einmalig", betont Moheit.
Dass der Jazz-Akkord, den sie erzeugt, schräg und ungewöhnlich klingt, beziehungsweise vom erwarteten Klang einer Glocke abweicht, hat einen guten Grund, erläutert der Ingenieur: "Als Akustiker interessiert uns, wie Menschen auf ungewohnte Töne reagieren.“ Mithilfe der Glocke könnten die Forscher und Forscherinnen grundlegende Erkenntnisse über die Erwartungshaltung an einen Klang und deren tatsächliche Wirkung ableiten. "Das wollen wir in Kombination mit der Klanggestaltung und -optimierung weiter untersuchen.“