In einem Offenen Brief vom 30. März 2012 kritisiert die Redaktion der neuen musikzeitung die geplante Fusion der beiden SWR-Orchester und fordert die Intendanz und die Hörfunkdirektion des Senders auf, Lösungen zu diskutieren, die die parallele Existenz zweier Sinfonieorchester im SWR sichern könnten. Nachfolgend der Offene Brief im Wortlaut:


"Kein Schmelztiegel für die Orchester des Südwestrundfunks
Ein Offener Brief der Redaktion der neuen musikzeitung an die Intendanz
und Hörfunkdirektion des SWR

Sehr geehrter Herr Boudgoust, sehr geehrter Herr Hermann,

die neue musikzeitung dankt Ihnen hiermit noch einmal für Ihre Teilnahme an unserer Diskussion auf der Frankfurter Musikmesse über die Zukunft der SWR-Orchester. An eine Übereinstimmung der Standpunkte war dabei natürlich nicht zu denken – es war gleichwohl nützlich, die Argumente auszutauschen, zumal, da die endgültige Entscheidung über die Orchester-Situation beim SWR zunächst einmal bis in den Juni 2012 verschoben worden ist. Es gibt also genügend Zeit, alles noch einmal gründlich zu überdenken und nach Lösungen zu suchen. Dieser Offene Brief der neuen musikzeitung will nicht als allgemeiner Protest gegen die geplanten Veränderungen verstanden werden, sondern als Beitrag zu möglichen Modellen, die die parallele Existenz zweier Sinfonieorchester im SWR sichern könnten.

Eine entscheidende Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die aktuellen Pläne der Intendanz nicht nur bis Juni 2012, sondern auf unbestimmte Zeit verschoben, am besten aufgehoben würden. In den Orchestern, besonders im Baden-Badener/Freiburger, ist schon gefährliche Unruhe entstanden. Ein 1. Oboist nahm bereits eine Professur in Berlin an, ein hervorragender Klarinettist, der zurzeit noch auf Probe spielt, fürchtet, nicht ganz zu Unrecht, dass er bei der derzeitigen Situation keine Aussicht auf eine Festanstellung haben kann. Das sind bedrohliche Anzeichen einer schleichenden Erosion, die für beide Orchester gefährlich werden könnte, weil gerade die besten Musiker eines Orchesters sich erfahrungsgemäß beizeiten anderweitig umsehen. Eine Fusion der beiden Orchester, ohnehin schon äußerst problematisch, würde im Endeffekt ohne die Spitzenmusiker der Ensembles auskommen müssen, mit dem fatalen Ergebnis, dass man dann zwar ein zahlenmäßig großes, aber qualitativ höchstens mittelmäßiges Orchester besitzt. Daran würde auch ein sogenannter Spitzendirigent, wenn er denn überhaupt käme, nur wenig ändern können.

Das beste Beispiel dafür findet sich sogar in Ihrem eigenen Haus: Das Saarbrücker Radiosinfonieorchester war ein zwar nicht so stark besetztes Orchester wie Stuttgart oder Baden-Baden/Freiburg, gleichwohl ein speziell für die Moderne hoch qualifiziertes Ensemble – unter der langjährigen Leitung von Hans Zender erlebte man immer wieder überzeugende Interpretationen, die sich nicht hinter anderen berühmteren „Namen“ zu verstecken brauchten. Und das Orchester in Kaiserslautern beeindruckte unter Peter Falk durch seine Kompetenz und Qualität als gehobenes Unterhaltungsorchester. Jetzt, vereinigt zu einem „großen Orchester“, ist von diesen Profilen nichts mehr vorhanden, selbst wenn es dem Orchester gelingt, Schostakowitschs 5. Sinfonie – wie Sie, Herr Boudgoust es in der aktuellen Ausgabe der „Zeit“ begeistert berichten – angemessen darzustellen.

Aus den vielen Reaktionen in der Öffentlichkeit, in Fachkreisen und von Künstlern, die, wie Sylvain Cambreling, dem Baden-Baden/Freiburg-Orchester nahe stehen, konnten Sie, Herr Boudgoust, und Sie, Herr Hermann, entnehmen, dass die künftigen Planungen für die beiden Orchester auf entschiedene Ablehnung stoßen: Nicht aus Trotz, sondern weil alle ziemlich viel von der „Materie“ verstehen. Als Fazit aus allen Reaktionen wäre zu ziehen: Die Pläne über die Klangkörper des SWR bedürfen einer neuen, kompetenten Untersuchung – ohne eine in künstlerischen Fragen meist inkompetente Unternehmensberatung. Deren Rezepturen kennt man aus analogen Fällen zum Überdruss.

Unser Vorschlag und zugleich eine dringliche Bitte: Setzen Sie sich mit erfahrenen Fachleuten zusammen, die es sogar in Ihren Funkhäusern gibt, sprechen Sie intensiv mit den Orchestermitgliedern (und nicht vier Tage vor einer anstrengenden Japan-Tournee), hören Sie vielleicht auch ein wenig auf das Urteil erfahrener Kritiker, die schon genügend Orchesterfusionen erlebt haben. Und vor allem: Verbeißen Sie sich nicht in Ihre Ideen, nur weil Sie glauben, Sie könnten ihr Gesicht verlieren. Das Gegenteil wäre der Fall: Man würde Ihnen mit hoher Achtung begegnen, wenn Sie auf gute Argumente mit Aufgeschlossenheit antworteten.

Wir haben uns in der Redaktion auch selbst Gedanken gemacht, was man in der entstandenen Finanzierungssituation vielleicht anders gestalten könnte, um die Existenz der beiden Orchester und – das wollen wir an dieser Stelle nicht vergessen: des SWR Vokalensembles – langfristig zu sichern. Könnte man nicht die drei Klangkörper – und vielleicht auch noch die Deutsche Radiophilharmonie Saarbrücken/Kaiserslautern – in einer geeigneten Rechtsform zusammenfassen, in einer Art GmbH wie in Berlin, nur nicht mit deren strukturellen Mängeln? An diesem Konstrukt mit strenger Anbindung an die Funkhäuser, finanziell und logistisch, könnten sich dann auch außenstehende Institutionen beteiligen, finanziell vor allem. Wenn man erfährt, dass sehr viele Musiker beider Orchester ehrenamtlich in Schulen und Vereinen junge Menschen mit Musik vertraut machen, weil der Staat überall den Musikunterricht grob vernachlässigt, dann müsste dieser Staat wenigstens dafür etwas zahlen, aus dem Bildungsetat oder einem Fonds. Das Geld würde dann den Orchesteretats zufließen und somit den jeweiligen Sender entlasten. Das wäre nur e i n Vorschlag. In den Freundeskreisen der Orchester haben sicher etliche Leute ebenfalls gute Ideen, wie man die Finanzierung der beiden Orchester und des Vokalensembles auf eine breitere Basis stellen könnte.

Auf keinen Fall aber dürfen die Orchester und das ohnehin schon von fatalen Schrumpfungsprozessen befallene Vokalensemble in ihrer Individualität und ihrer hohen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt werden. Sie sind für das deutsche Musikleben und für die Weiterentwicklung der abendländischen Musikgeschichte unentbehrlich. Und glauben Sie, sehr geehrter Herr Boudgoust und sehr geehrter Herr Hermann, nicht so sehr den Orchester-Rankings, die in irgendwelchen Publikationen erscheinen. Da ist viel Spekulation auf schöne große Anzeigen und andere finanzielle Vorteile mit im Spiel. Die Messiaen-Einspielungen des Baden-Baden/Freiburger Orchesters unter Cambreling sind konkurrenzlos, ebenso Michael Gielens formbewusste und zugleich transzendierende Mahler-Interpretationen. In Stuttgart wiederum haben Dirigentenpersönlichkeiten wie Sergiu Celibidache und zuletzt Sir Roger Norrington mit seinem unverwechselbaren vibratoarmen „Stuttgart Sound“ Interpretationsgeschichte geschrieben. So etwas wollen alle Musikfreunde auch in Zukunft erleben. Der SWR sollte stolz auf seine beiden Orchester sein und alles unternehmen, dass sie ihre Arbeit fortsetzen können. Beide Orchester gehören zur Musikgeschichte Deutschlands nach dem verheerenden Krieg, zur Geschichte seiner Funkhäuser und schließlich der ganzen Musikwelt.

Nachtrag: Als in Frankfurt am Main Ende der 90er-Jahre das Opernhaus infolge einer Brandstiftung abgebrannt war, sprach der Kulturdezernent Hilmar Hoffmann ein geradezu sinnstiftendes Wort: „Wenn man eine Oper wirklich will, kann man sie auch finanzieren.“ Innerhalb von zwei Jahren war Frankfurts Oper wieder aufgebaut, heute gehört sie zu den ersten Häusern Europas und meldet stetig wachsende Besucherzahlen – Tendenz: 90 Prozent.

Mit freundlichen Grüßen,
die neue musikzeitung mit Theo Geißler, Barbara Haack, Gerhard Rohde, Andreas Kolb und Juan Martin Koch
Regensburg, den 30. März 2012"

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