Die Hip-Hop-BAnd Die Fantastischen Vier stehen auf der Bühne, mit den Gesichtern zu einem riesigen Publikum. Links und rechts von der Bühne schießt rosafarbenes Confetti in die Höhe.
Die Hip-Hop-Band Die Fantastischen Vier  
Foto:  Carsten Klick

Rock- und Popmusik sind quer durch alle Altersgruppen seit Jahrzehnten die beliebtesten Genres – live und auf Tonträger. Peter Wicke benennt die jüngsten Entwicklungen und beschreibt Merkmale der Infrastruktur.

Pop, Rock, Hip-Hop, Rap, Soul, Techno, Dance, Schlager, volkstümliche Musik, Blasmusik, Chanson und die dazugehörigen Hybridformen und Subgenres nehmen im Musikleben Deutschlands einen zentralen Platz ein. Namen wie Helene Fischer, Max Giesinger, Tokio Hotel, Die Toten Hosen, Rammstein, Bushido oder Paul Kalkbrenner sind dafür, und das nicht nur hierzulande, wohl den meisten ein Begriff. So erscheinen Rock- und Popmusik in einschlägigen Umfragen quer durch alle Altersgruppen seit Jahrzehnten unangefochten als die beliebtesten Musikgenres und verleihen damit dem Alltag aller sozialen Gruppen eine je spezifische musikalische Signatur (vgl. dazu auch den Beitrag „Musikpräferenzen und Musikpublika“ von Karl-Heinz Reuband).

Die populären Musikformen sind in ihrer gesamten Genrevielfalt zugleich aber auch ein herausragendes Feld der musikalischen Selbstbetätigung, das hinter der Omnipräsenz der medialen Vermittlung gerade in dieser Musiksparte leicht übersehen wird: Auf jede musikalische Medienkarriere kommen buchstäblich Hunderte von Amateur*innen, die in allen Altersgruppen mehr oder weniger ambitioniert ihren kreativen Bedürfnissen in Form des selbsttätigen Musizierens nachgehen und der populären Musik jene Basis liefern, ohne die sie auch im Kontext der professionellen Musikproduktion nicht möglich wäre. Zugleich repräsentieren die populären Musikformen ein kulturelles Terrain, das bei aller Dominanz der Medien noch immer von der live aufgeführten Musik geprägt wird. Und das nicht nur, weil lediglich ein verschwindend kleiner Teil der hier angesiedelten musikalischen Aktivitäten den Weg in die Medien findet. Vielmehr macht die Teilhabe an der Aktion des Musizierens, das Eintauchen in jenes Netz von sozialen Beziehungen, das um die Musikaufführung herum entsteht und nur hier zu haben ist, ein wesentliches Funktionselement der populären Musik aus.

Die „Szene“ mit ihrer charakteristischen lokalen Infrastruktur aus Spielstätten, musikbezogenen und musikalischen Aktivitäten sowie den dazugehörigen mehr oder weniger festen Gruppenbildungen, Fanbeziehungen und Freizeitcliquen ist eine an Bedeutung ständig zunehmende Plattform für den Erwerb sozialer Kompetenzen, für das Ausagieren von Sozialität und Individualität. Insofern gehört der eigentümliche Widerspruch, dass die Medialisierung der Musik mit Streamingdiensten wie Spotify, mit Music-on-Demand oder Mobile Music unaufhaltsam voranschreitet, während zur gleichen Zeit die Livemusik an Bedeutung gewinnt und die medienvermittelte Musik durch kulturelle Praktiken wie das DJing wieder in den Livezusammenhang zurückgeholt wird, durchaus zur Sache selbst. Auch im Musikleben Deutschlands bildet sich dies in gegensätzlichen  Wachstumstrends ab, die einerseits der Livemusik einen Boom bescheren, sichtbar etwa in der explosionsartigen Zunahme von Festivals, während zur gleichen Zeit Streaming- und Downloadplattformen im Internet die gesamte Welt der Musik per Mausklick verfügbar machen. So ist das Internet mit einer Präsenz in 93 Prozent aller Haushalte in Deutschland, davon 33,2 Millionen mit Breitbandanschluss, zu einem wichtigen Faktor im Umgang mit Musik geworden. Dennoch hat der Bundesverband der Veranstaltungswirtschaft für Konzertbesuche im Jahr 2016 Ausgaben in Höhe von rund 3,7 Milliarden Euro ermittelt – mit einem Marktanteil von 30 Prozent (1,1 Milliarden Euro) für Konzerte populärer Genres wie Rock, Pop, Hard Rock, Heavy Metal, Hip-Hop und Rap. Im selben Jahr betrug der Umsatz aus dem Verkauf von Tonträgern (physisch und digital) knapp 1,8 Milliarden Euro (einschl. Rechte und Synchronisation).[1]

Abbildung 1
Ausbildungsstätten für Pop, Rock und Jazz
Karte: Ausbildungsstätten für Pop, Rock und Jazz
Zur Kartenansicht

Das aktive Musizieren – sowohl herkömmlich als auch in den neuen software- und tonträgerbasierten Formen –, das virtuelle Musizieren mittels rechnergesteuerten Klangverarbeitungsmodulen und das DJing spielen in allen Sparten der populären Musik trotz wachsender Mediennutzung eine nach wie vor große Rolle. Allerdings sind die damit verbundenen kreativen, kulturellen und sozialen Aktivitäten, die tragenden Infrastrukturen und das dazugehörige institutionelle Bedingungsgefüge schwer zu erfassen – angesichts ihrer Dynamik, des hohen Verflechtungsgrads von globalen, regionalen und lokalen Prozessen sowie der ausgeprägten Ausdifferenzierung in mehr oder weniger selbstständige Teil- bzw. Subsysteme, in Szenen, soziokulturelle Milieus, Fan- und musikalische Subkulturen. Das Potenzial, das die populäre Musik in kultureller, künstlerischer und in sozialer, aber auch in wirtschaftlicher Hinsicht birgt, ist empirisch kaum erschlossen. So hat sich der falsche Eindruck verfestigt, dass sie weitgehend in ihrer medialen Erscheinungsform aufgehe und alles andere eher ein (vernachlässigbares) Derivat der medialen Prozesse sei. Dabei weisen allein die Stadtmagazine der Großstädte pro Woche Hunderte von Musikveranstaltungen aus, die von professionellen, halbprofessionellen und nichtprofessionellen Musiker*innen, von DJ*anes, und Klangartist*innen bestritten werden.

Zuletzt konnten mehr als 10.000 professionelle Interpret*innen im Bereich Rock und Popmusik sowie 725 DJ*anes nachgewiesen werden, [2] außerdem eine Vielzahl von Amateuren, die grundsätzlich einen erheblichen Teil der musikalischen Aktivitäten dieses Musiksektors bestreiten. Zwar ist inzwischen auch das Feld der populären Musik von einem Netzwerk organisierter Interessenvertretungen überzogen, vom Deutschen Rock & Pop Musikerverband über die Landesarbeitsgemeinschaften (LAG) Rockmusik mit ihrer Dachorganisation, der Bundesarbeitsgemeinschaft der Musikinitiativen B. A. Rock, bis hin zum Bundesverband Popularmusik; doch deren Mitgliederzahlen erlauben es aufgrund der Besonderheiten dieses Musikbereichs nicht, die Menge der tatsächlich aktiven Musiker*innen zu beziffern. Zu groß sind hier die Unterschiede zwischen den Musiksparten, zu groß die regionalen und lokalen Unterschiede, zu groß auch der Anteil der Amateur*innen, die nirgendwo organisiert sind, und zu groß deren Gewicht in der Pop-Kultur, um sie als „quantité négligeable“ zu behandeln.

Förderung und Ausbildung

Angesichts seiner sozialen und kulturellen Relevanz ist der Bereich der populären Musik inzwischen zu einem festen Bestandteil der öffentlichen Kulturförderung geworden. So gibt es auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene vielfältige Förderprogramme und -projekte, die sich gezielt an die hier tätigen Musikschaffenden wenden; zu nennen ist hier insbesondere die Initiative Musik, die als zentrale Fördereinrichtung mit mehreren Programmen den Nachwuchs wie auch infrastrukturelle Maßnahmen unterstützt.[3] Eine große Rolle spielt die in den letzten Jahrzehnten auf diesem Gebiet gewachsene Verbandsstruktur, die – wie etwa der Verband für Popkultur in Bayern, die LAG Rock in Niedersachsen, die LAG Rock & Pop in Rheinland-Pfalz, die RockCity Hamburg, die Popbüros Baden-Württemberg, der Music Pool Berlin oder das Berliner Musicboard – unter dem Dach des Bundesverbands Popularmusik Förderinteressen bündelt und entsprechende Aktivitäten vernetzt. Im Zentrum steht dabei vor allem mit entsprechenden Qualifizierungsangeboten das Bemühen um den Nachwuchs und die musizierenden Amateur*innen. Zu den Initiativen der Verbände gehören auch die Durchführung von Wettbewerben und die Vergabe von Preisen, etwa der vom Deutschen Rock & Pop Musikerverband in Verbindung mit der Deutschen Popstiftung jährlich verliehene Deutsche Rock & Pop Preis. Auch die Landesmusikräte sind auf diesem Gebiet mit speziellen Förderprojekten tätig. Ein Beispiel ist das vom Landesmusikrat Nordrhein-Westfalen initiierte Projekt popNRW, das sich gezielt an den Nachwuchs richtet. Der Deutsche Musikrat hat mit dem PopCamp das aus der Klassik bekannte Modell der Meisterkurse in den Bereich der Popularmusik transferiert und damit eine spezielle Form der Spitzenförderung etabliert.

Foto:  Sandra Ludewig  /  PopCamp
Mit dem PopCamp fördert der Deutsche Musikrat Bands und Einzelinterpret*innen auf ihrem Weg ins Profi-Musikgeschäft.  
Foto:  Sandra Ludewig  /  PopCamp
Foto: PopCamp
Foto:  Sandra Ludewig  /  PopCamp

Einen Niederschlag findet der Stellenwert dieses Musikbereichs in der öffentlichen Kulturförderung nicht zuletzt auch in den zahlreichen Ausbildungsangeboten. Auch wenn angesichts des hohen Anteils von Freizeitmusiker*innen „learning by doing“ eine zentrale Form des Erwerbs musikalischer Kenntnisse und Fertigkeiten geblieben ist, so hat sich doch das Angebot an Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten in den letzten Jahren kontinuierlich erhöht und ist auf einem bemerkenswert hohen Niveau längst flächendeckend geworden. So bieten in Deutschland 26 Universitäten und Musikhochschulen sowie rund 30 weitere Ausbildungs-, Fort- und Weiterbildungseinrichtungen, Fachakademien und -schulen einschlägige Ausbildungsmöglichkeiten (vgl. Abbildung 1). Bei mehr als drei Viertel der über 900 öffentlichen Musikschulen finden sich nach Angaben des Verbands deutscher Musikschulen (VdM) Ausbildungsmöglichkeiten in den Bereichen Rock- und Popmusik. Daneben gibt es, privat finanziert oder öffentlich gefördert (sofern nicht in der Trägerschaft der öffentlichen Hand), alternative Ausbildungsangebote, die jenseits der herkömmlichen Bildungsinstitutionen angesiedelt sind. Verwiesen sei etwa auf die Jazz & Pop School Darmstadt, die Frankfurter Musikwerkstatt oder die Akademie Deutsche POP mit 14 Standorten in Deutschland, Österreich und den Niederlanden. Eine in ihrer Art nicht nur in der Bundesrepublik einzigartige Einrichtung ist die 2003 eröffnete Popakademie Baden-Württemberg, die mit den Bachelor-Studiengängen Musikbusiness, Popmusikdesign und Weltmusik sowie den Master-Studiengängen Music and Creative Industries und Popular Music inzwischen ein spezifisch auf diese Berufsfelder ausgerichtetes Studium anbietet, das seither durch ein komplexes Bündel von Weiterbildungsangeboten ergänzt wird.

Bild
Foto: Wacken Open Air
Wacken Open Air  
Foto:  ICS Festival Service GmbH

Festivals

Ein weiterer wichtiger Indikator für den Stellenwert, den die populäre Musik in der Kulturförderung der deutschen Länder und Kommunen besitzt, ist die immense Zahl von Festivals, die in allen Sparten der populären Musik in der Regel mit finanzieller Unterstützung durch die Kommunen stattfinden. Diese Entwicklung hat in den letzten 20 Jahren unüberschaubare Ausmaße angenommen. Nach Angaben des Bundesverbands der Veranstaltungswirtschaft haben die Musikfestivals (einschließlich Klassik) in Deutschland im Jahr 2017 einen Gesamtumsatz von rund 401,5 Millionen Euro verbuchen können – rund 19 Prozent mehr als noch vier Jahre zuvor und somit neben den Konzerten populärer Genres mit rund 1,1 Milliarden Euro Umsatz (2017) ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor.[4] Die Bedeutung der Festivals zieht sich quer durch alle Altersgruppen und führt Jahr für Jahr zu Besucherrekorden. So haben mehr als 40 Prozent der über 14-jährigen Bevölkerung in der Bundesrepublik 2017 großes Interesse am Besuch von Rock- und Popmusikkonzerten bekundet, in der Altersgruppe der 14- bis 19-Jährigen lag dieser Anteil sogar bei nahezu 73 Prozent (vgl. Abbildung 1 im Beitrag „Musikpräferenzen“).

Nach einer Hochrechnung des Statistischen Landesamts Hessen gab es im Jahr 2015 insgesamt etwa 32 Millionen Besuche von Musikfestivals aller Sparten in Deutschland.[5] Das Spektrum der Angebote reicht von teils seit Jahrzehnten etablierten überregionalen Events – etwa Rock am Ring (Nürburgring, seit 1985), Wacken Open Air (Schleswig-Holstein, seit 1990), Schlagermove (Hamburg, seit 1997), Melt (nach zwei Vorläufern in Gräfenhainichen/Ferropolis, seit 1999) und Schlagerhammer (Berlin, seit 2016) – bis hin zu regionalen und lokalen Festivals, die sich einen festen Platz im Musikleben erobert haben.

Abbildung 2
Soziodemografie der Musikkäufer*innen nach Repertoiresegmenten
Abbbildung: Alter und Geschlecht der Musikkäufer*innen
Zur vollständigen Statistik

Musikmarkt

Im Hinblick auf die Gruppe derjenigen, die Musik kaufen, zeigt sich ein deutlicher Vorrang der männlichen Bevölkerung: Fast zwei Drittel (63 Prozent) sind männlich, in den Sparten Rock und Dance sind es sogar 76 Prozent bzw. 73 Prozent. Beim Kauf von Popmusik sind vier von zehn Käufer*innen (41 Prozent) Frauen, etwas mehr (46 Prozent) beim Schlager (vgl. Abbildung 2 auf S. 356). Obwohl es naturgemäß erhebliche Unterschiede zwischen den Altersgruppen gibt, ist doch auffallend, dass die Gruppe der über 50-Jährigen dem demografischen Wandel entsprechend inzwischen fast in allen Musiksparten mit ihren Ausgaben für Musik den jeweils größten Anteil stellt. Eine Ausnahme bildet hier nur der Dance-Sektor.

Für den semiprofessionellen und professionellen Bereich der populären Musik ist der Tonträger noch immer ein zentrales Darstellungs- und Vermittlungsmedium, auch wenn inzwischen 46,6 Prozent des Umsatzes der Musikindustrie in Deutschland auf die digitale Musikverbreitung in Form von Musikdownloads oder Audiostreams entfallen. Für das Jahr 2017 bilanzierte der Bundesverband Musikindustrie in Deutschland einen Gesamtumsatz von 1,59 Milliarden Euro bei 70 Millionen verkauften Tonträgern, 63 Millionen bezahlten Musikdownloads und 56,4 Milliarden Musikstreams[6] – ein Anteil von etwa acht Prozent am internationalen Musikmarkt. Von den 282.000 verschiedenen physischen Pop- und Klassik-Alben, die 2017 auf dem deutschen Musikmarkt erhältlich waren, gehörten 204.000 in den Bereich der Rock- und Popmusik, darunter rund 16.000 Album-Neuerscheinungen (vgl. Abbildung 3).

Abbildung 3
Gesamtangebot und Neuerscheinungen von Pop- und Klassik-Tonträgern (physisch)
Tabelle: Gesamtangebot und Neuerscheinungen von Pop- und Klassiktonträgern (physisch) 2018
Zur vollständigen Statistik

Von eher geringfügigen Schwankungen abgesehen, sind die Anteile der Repertoirekategorien am Gesamtumsatz des Musikmarkts in der letzten Dekade – wie auch in den Jahren davor – relativ konstant geblieben (vgl. Abbildung 4). Dies deutet darauf hin, dass die Genres und Gattungen der populären Musik in sehr stabile soziokulturelle Zusammenhänge eingebunden sind, die allenfalls generationsbedingten Veränderungen unterliegen. Mit anderen Worten: Es sind fest verankerte kulturelle Wertgefüge und ihnen entsprechende funktionale Gebrauchszusammenhänge, die diese Musik tragen. Allerdings verbergen diese Repertoirekategorien, die das Kaufverhalten und nicht die musikalischen Genrestrukturen auf dem Musikmarkt abbilden, dass in den letzten Jahren der Prozess der musikalisch-stilistischen Ausdifferenzierung vor allem der Hauptformen dieses Musiksektors – Pop, Rock, Hip-Hop, Rap, Dance – massiv vorangeschritten ist. Die soziomusikalischen Prozesse, Fan-Kulturen, Stilformen und Musikszenen werden, wenngleich sie auch komplex untereinander vernetzt sind, immer kleinteiliger. Von musikalischen „Massenprozessen“ und „Massenkultur“ kann hier schon lange keine Rede mehr sein – die wenigen Stars am Firmament des Pop-Universums ausgenommen, und selbst die werden immer kurzlebiger.

Abbildung 4
Anteile der Repertoiresegmente am Gesamtumsatz physischer Tonträger und digitaler Musikprodukte
Tabelle: Anteile der Repertoiresegmente am Gesamtumsatz 2018
Zur vollständigen Statistik

Auch wenn sich die in den Umsatzzahlen der Musikindustrie zum Ausdruck kommenden Strukturen des Kaufverhaltens keineswegs im Verhältnis 1:1 in das musikalisch-kulturelle Verhalten insgesamt übersetzen lassen: Die darin abgebildeten grundlegenden Proportionsverhältnisse der Musiksparten zueinander spiegeln dennoch einigermaßen die Gesamtverhältnisse des Musikbetriebs, denn gerade der Bereich der Musikaufnahmen sowie derjenige der Musikveranstaltungen spielen wirtschaftlich eine zentrale Rolle. Zwischen dem Kauf von Musik und allen anderen Aktivitäten bestehen zwar mittelbare, dennoch aber deutliche Zusammenhänge. Vor diesem Hintergrund ist die Frage von besonderem Interesse, wie sich der Anteil des nationalen Repertoires am Verkaufsgeschehen auf dem Tonträgermarkt darstellt, denn das hat entscheidende Rückwirkungen auf die soziale Situation der Akteure (Musiker*innen, Komponist*innen, Songschreiber*innen) und besitzt aufgrund der wirtschaftlichen Bedeutung und Ausstrahlungskraft des Tonträgermarkts auch Konsequenzen für den Veranstaltungsbetrieb. Zwar wird seit 1995 in den Jahreswirtschaftsberichten des Bundesverbands Musikindustrie der erzielte Umsatz nicht mehr getrennt nach nationalem und internationalem Repertoire ausgewiesen, doch der Anteil der nationalen Produktionen in den Charts, den von der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) im Auftrag des Bundesverbands Musikindustrie erstellten Listungen der wöchentlich meistverkauften Tonträger, Musikdownloads und Audiostreams, wird erfasst, auch wenn hier alle auf ein eher spezialisiertes Publikum zielenden Produktionen und Musikformen der Sache nach von vornherein herausfallen. Dennoch lässt sich sagen, dass die Repräsentanz einheimischer Produkte in den Charts durchaus ein Signal für die Verhältnisse insgesamt ist (vgl. Abbildung 5).

Bild
Foto: Sammy Deluxe auf dem c/o pop Festival 2018
Der Rapper Sammy Deluxe auf dem c/o pop Festival 2018  
Foto:  Christian Faustus

Nicht nur hat sich der Anteil nationaler Produktionen für das Albumformat (Longplay) in den letzten 15 Jahren nahezu verdoppelt; verglichen mit den 1990er Jahren ist es gelungen, der nationalen Musikentwicklung wieder eine bedeutende Position auf dem Musikmarkt zu verschaffen. 1991 lag der nationale Anteil an den Longplay-Produktionen in den Charts bei gerade 17,9 Prozent, 1999 bei 23,2 Prozent. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass 2017 unter den zehn erfolgreichsten Alben sieben deutschsprachig waren. Bei den einheimischen Produktionen ist ohnehin auffällig, dass vor allem durch Rap und Hip-Hop sowie die neue Faszination am Schlager deutschsprachige Texte längst nicht mehr das einstige Nischendasein frönen. Dass sich bei den Singleveröffentlichungen ein anderes Bild ergibt, hat mit den digitalen Verbreitungsformen zu tun. Bei den Musikdownloads und Audiostreams dominieren internationale Produktionen, was nicht zuletzt auf die kuratierten Playlists der global agierenden Streaming-Dienste zurückzuführen sein dürfte.

Insgesamt hat der Umgang mit medial vermittelter Musik in den letzten Jahren durch den rasant wachsenden Anteil digitaler Verbreitungsformen einen massiven Wandel erfahren. Allein die Zahl der Audiostreams hat sich in den vergangenen fünf Jahren auf 56,4 Milliarden Streams nahezu verzehnfacht, in den letzten zwei Jahren mehr als verdoppelt. So ist der physische Tonträger, CD oder Vinyl, nur noch mit reichlich 16 Prozent an der Musiknutzung beteiligt, während die digitalen Verbreitungsformen mit fast 57 Prozent die Musiknutzung dominieren. Nur das terrestrische Radio hat seinen Platz mit rund 27 Prozent über die Jahre stabil behauptet. Das Online-Radio hat dagegen ebenfalls deutliche Zuwachsraten zu verzeichnen, von gut sechs Prozent im Jahr 2016 auf mehr als zehn Prozent 2017.[7]

Abbildung 5
Anteile nationaler und internationaler Longplay-Produktionen an den TOP-100-Charts
Abbildung: Umsatzanteile von nationalen und internationalen LP-Produktionen
Zur vollständigen Statistik

Hörfunk und Fernsehen

Das Radio spielt damit in Deutschland nach wie vor eine entscheidende Rolle für die Vermittlung von Musik, wobei die Genres und Gattungen der populären Musik in der Beliebtheit den mit Abstand führenden Platz einnehmen. Mehr als 250 private und über 70 öffentlich-rechtliche Radioprogramme mit einem Musikanteil je nach Programmformat von 70 Prozent und mehr haben mit der Prägung von Hörgewohnheiten einen unmittelbaren Einfluss auf die Musikentwicklung. Nicht zuletzt ist der Hörfunk ebenso wie das Fernsehen mit den von ihnen an die GEMA bzw. die GVL entrichteten Lizenzgebühren eine wichtige wirtschaftliche Säule des Musikbetriebs, wie die jeweils jüngsten Geschäftsberichte zeigen. So nahm die GEMA im Jahr 2017 rund 239 Millionen Euro im Bereich „Sendung“ ein und verzeichnete damit gegenüber dem Vorjahr eine Steigerung um rund 4,5 Millionen Euro; die GVL gibt für das Jahr 2016 Einnahmen in Höhe von gut 83 Millionen Euro aus „Sendevergütungen Radio und TV“ an, knapp 1,5 Millionen Euro mehr als im Jahr 2015.[8] Nicht unproblematisch ist dabei der rein instrumentelle Einsatz von Musik bei den werbefinanzierten Privatsendern im Hörfunkbereich, weil die zielgruppenbezogene Formatierung des Musikprogramms ein erhebliches Gegengewicht in anderen Formen musikalischer Öffentlichkeit verlangt, sollen Entwicklungsdynamik und Genrevielfalt angesichts der Ausstrahlungskraft des Hörfunks keinen Schaden nehmen.

Gleichzeitig offenbaren die Strukturen des Musikprogramms im privaten und öffentlich-rechtlichen Hörfunk gegenüber dem vergleichsweise hohen Anteil des nationalen Repertoires auf dem Tonträgermarkt erhebliche Disproportionen. Die von dem Branchendienst MusicTrace ermittelten Radiocharts beispielsweise weisen unter den von öffentlich-rechtlichen wie privaten Sendern 100 meistgespielten Titeln des Jahres 2017 nur knapp zehn Prozent nationale Produktionen aus.[9] War das weit weniger drastische Übergewicht internationaler Musikproduktionen in der Vergangenheit selbst für den Deutschen Bundestag einmal Anlass, sich dieser Problematik mit einer Anhörung und einer Plenardiskussion zum Thema „Für eine Selbstverpflichtung öffentlich-rechtlicher und privater Rundfunksender zur Förderung von Vielfalt im Bereich von Pop- und Rockmusik in Deutschland” (2004) anzunehmen,[10] so ist dies trotz der 2014 gestarteten Online-Petition „Mehr deutsche Musik im Radio“ de facto inzwischen kein Thema mehr – die nationalen Musikanteile werden in den einschlägigen Statistiken der Sender noch nicht einmal mehr ausgewiesen. Angesichts der Konkurrenz, die die Medien Hörfunk und Fernsehen inzwischen durch das im Wortsinn grenzenlose Internet erhalten haben, stellen sich ganz andere Fragen, wollen sich die traditionellen Medien gegenüber dieser Konkurrenz behaupten. Im Internet erfolgt die Lieferung des Contents neben den Audiostreams auf den Onlineplattformen der Sender überwiegend durch global agierende Streamingdienste wie Spotify oder YouTube, und die lassen nicht nur eine durchgreifende Individualisierung der Musiknutzung zu, sondern haben die Frage nach einer nationalen Quotierung von Programminhalten schlicht obsolet werden lassen.

Bild
Der Gewinner des deutschen Vorentscheids zum Eurovision Song Contest 2018, Michael Schulte, steht auf der Bühne und spannt lachend eine Deutschlandfahne hinter seinem Rücken.
Der Gewinner des deutschen Vorentscheids zum Eurovision Song Contest 2018, Michael Schulte  
Foto:  Rolf Klatt  /  NDR

Auch im Fernsehen hat sich der Stellenwert von Musik infolgedessen in den letzten Jahren deutlich verändert. Trotz erfolgreicher Formate – der Eurovision Song Contest ist mit über 200 Millionen Zuschauern die meistgesehene Musiksendung der Welt und kann auch im deutschen Fernsehen mit Spitzenquoten aufwarten (2018: Einschaltquote 33,3 Prozent, 8,21 Millionen Zuschauer) – ist der Anteil von Musiksendungen am Gesamtprogramm des Fernsehens, sieht man von den musikorientierten Spartenkanälen einmal ab, im letzten Jahrzehnt deutlich zurückgegangen. 2017 betrug er beispielsweise im ersten Programm der ARD weniger als 0,1 Prozent, und dabei ist noch nicht einmal zwischen Klassik und Pop unterschieden.[11] Dem entspricht auch das relativ geringe Interesse der Zuschauer an solchen Sendungen im Fernsehen. Zwar haben insbesondere Schlager und Volksmusik mit Livesendungen wie „Fest der Volksmusik“ bzw. „Das Große Schlagerfest“ nach wie vor ihren Sendeplatz im Programm, doch ist der Stellenwert der Musik im Gesamtprogramm trotz Sendungen wie dem RTL-Format „Deutschland sucht den Superstar“, die um die Musik herum aufgebaut sind, marginal. So lag der Anteil der Musikendungen bei den fünf größten Fernsehsendern ARD, ZDF, RTL, SAT.1 und ProSieben zusammen im Jahr 2017 bei gerade einmal 0,9 Prozent.[12] Nicht erfasst in der Statistik ist indessen, dass nahezu das gesamte Programmangebot des Fernsehens, von der Werbung bis zum Spielfilm, mit Musik unterlegt ist. Filmmusik und Musik zur Werbung sind jedoch nicht nur selbst wichtige Gattungen der populären Musik, sie speisen sich in musikalischer und stilistischer Hinsicht zudem aus den aktuellen Trends im Gesamtangebot, dessen kulturelles Gewicht sie damit potenzieren.

Bei den musikbezogenen Spartenkanälen hat die digitale Musikverbreitung im Internet ebenfalls deutliche Spuren hinterlassen. Der 1993 einmal sehr erfolgreich als deutsches Musikfernsehen gestartete Spartenkanal VIVA stellte Ende 2018 seinen Sendebetrieb endgültig ein, nachdem die Einschaltquoten des hauptsächlich mit Pop, Rock, Rap und Hip-Hop bestrittenen Programms unter die Grenze der Messbarkeit gesunken waren. MTV Germany, die deutsche Version von MTV: Music Television, ist seit Dezember 2017 zwar wieder im Free-TV zu empfangen, nachdem der Kanal 2011 zu Sky ins Pay-TV gewechselt war, hat seit 2015 aber kein eigenständiges Programm mehr in Deutschland, sondern übernimmt das Programm lediglich mit deutschen Werbefenstern von MTV Switzerland. Der in den frühen 1980er Jahren in den USA entstandene Spartenkanal, der einmal ausschließlich der Ausstrahlung von Musikvideos in Rotation vorbehalten war, ist allerdings schon lange kein reiner Musikkanal mehr, sondern hat sich zu einer Art Vollprogramm für Jugendliche mit Schwerpunkten auf Reality-TV und Comedy gewandelt. Im Zentrum der Musikstrecke stehen neben Specials wie „MTV Rockzone“ oder „MTV Music Special“ die bis zum April 2018 gemeinsam mit Viva ausgestrahlten „MTV Top 100“ mit ausgewählten Musikvideos aus den offiziellen deutschen Charts. Eigene Akzente setzt der Sender damit nicht mehr. Dagegen vermochte sich das Deutsche Musik Fernsehen, das 2011 aus dem digitalen Fernsehmusiksender Volksmusik.TV hervorging, mit einem Programm aus  deutschsprachiger Musik, hauptsächlich Schlager und Volksmusik, bislang recht erfolgreich zu behaupten. Gleiches gilt für TV-Internetstreams wie Deluxe Music, die mit einem an Musikgenres orientierten Programm aus Musikvideos mit Schwerpunkt in den 1980er und 1990er Jahren eine Zielgruppe jenseits der 25 anzusprechen suchen. Doch für die Altersgruppe der 13- bis 19-Jährigen, die mit ihrer Affinität für neue Musikformen und der Aufgeschlossenheit für neue Trends auf dem Feld der populären Musik eine zentrale Stellung einnimmt, ist YouTube mit seinem mehrere Milliarden Videos umfassenden Gesamtangebot, das jede Minute 500 Stunden Zuwachs erhält,[13] davon fünf Prozent Musik, eine unschlagbare Konkurrenz. Musikvideos stehen mit regelmäßiger, mindestens mehrmals wöchentlicher Nutzung dabei bei 53 Prozent der YouTube-Nutzer*innen auch in Deutschland einsam an der Spitze.[14]

Bild
Drei Schlagersänger auf der Bühne während der „Hüttenparty“ im Mitteldeutschen Rundfunk 2019. Über das Publikum fliegen rosafrbene Luftballons
„Hüttenparty“ im Mitteldeutschen Rundfunk 2019  
Foto:  Peter Krivograd  /  MDR/ORF

Für die populäre Musik bedeuten diese strukturellen Veränderungen in der Musikverbreitung einerseits, dass ihre Produktion in einem nationalen Kontext stattfindet und hier auch eine unverwechselbare Prägung erfährt, selbst wenn die Titel auf Englisch, der „lingua franca“ der Popkultur aufgenommen werden. Andererseits aber erfolgt ihre Nutzung zumindest in den medienvermittelten Formen durch das Internet zunehmend global und zunehmend individualisiert. Die Folge davon sind immer größere Disproportionen der mit Musikproduktion einerseits und Musiknutzung andererseits verbundenen Geldströme.

Veranstaltungen

Mit deutlich anderen Gewichtungen stellt sich die Situation im Veranstaltungsleben dar, das – trotz Internet – für die meisten der in diesem Sektor tätigen Musiker*innen die hauptsächliche, wenn nicht die einzige Vermittlungsform für ihre Musik ist. Der 2015 veröffentlichten „Musikwirtschaftsstudie“ zufolge haben die rund 1.300 Musikveranstalter, die auf dem Sektor populäre Musik tätig sind, im Jahr 2014 einen Umsatz von 1,6 Milliarden Euro ausgewiesen; zugleich betrug der Umsatz auf dem Musikmarkt für physische Tonträger und digitale Verbreitung insgesamt 500 Millionen Euro weniger.[15] Rund 40 Prozent der über 14-jährigen Deutschen gaben 2017 in einer Umfrage an, sich für Veranstaltungen mit Rock und Popmusik zu interessieren – erneut mehr als in den Jahren zuvor.[16]

Allein in Berlin gab es im Jahr 2017 rund 500 Veranstaltungsorte für Musik, davon 20 Prozent Diskotheken, 65 Prozent Bars und Kneipen mit Musik und 15 Prozent Spielstätten für größere Events, in denen monatlich 2.700 Musikveranstaltungen stattfanden.[17] Wird der Veranstaltungsbetrieb genauer unter die Lupe genommen, erscheinen gerade solche Musikarten in auffälliger Häufung, die weder der Tonträgermarkt noch die Medien Rundfunk und Fernsehen als Präferenz erkennen lassen. Von den in den Berliner Stadtmagazinen Zitty und TIP für die letzten beiden Juniwochen 2018 insgesamt gelisteten rund 500 Veranstaltungen mit Live-musik (klassische Musik und Oper ausgenommen) gehörten rund 18 Prozent in die Kategorie der sogenannten World Music, von Tango über brasilianische, kubanische und afrikanische Musik bis hin zu Klezmer, der Musik vom Balkan und der als Zouk bekannten Tanzmusik von den französischen Antillen. Ein gutes Drittel dieser Veranstaltungen wurde von deutschen oder in Deutschland lebenden Musiker*innen bestritten. Hinzu kommen die musikalischen Subkulturen der Migranten-Communities, unter denen sich insbesondere der bis auf die 1990er Jahre zurückgehende türkische Hip-Hop – türkischsprachiger Hip-Hop von in Deutschland lebenden türkischen Jugendlichen oder deutschen Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund – zu einem auch international wahrgenommenen eigenen Genre profiliert hat. Und auch die von DJ*anes bestrittenen Events in den rund 100 Dance Clubs der Stadt verwiesen auf einen wesentlich höheren Anteil dieses Segments als es sich in den Verhältnissen etwa auf dem Tonträgermarkt darstellt. Auch wenn davon ausgegangen werden kann, dass sich in jeder Großstadt in Deutschland ein ähnliches Bild ergibt, wenn auch nicht in diesen Größenordnungen – eine Übersicht über die musikalischen Veranstaltungen fehlt bislang. Ein Blick auf die zahllosen Stadtteil- und Dorffeste wiederum, die landauf landab den Sommer begleiten und nahezu immer mit Livemusik verbunden sind, würde zu weiteren und vermutlich erheblichen Differenzierungen führen.

Resümee

Insgesamt ergibt sich ein sehr vielschichtiges Bild, das von inzwischen vier sich überlagernden, in sich noch einmal sehr komplex strukturierten Ebenen bestimmt wird.

  • Die körperlose Verbreitung von Musik in digitaler Form stellt mit 63 Millionen Musikdownloads und über 56 Milliarden Musikstreams (2017) inzwischen jede andere Form der Musikverbreitung in den Schatten. Hier haben sich individualisierte Formen der Musiknutzung mit eigenen oder kuratierten Playlists durchgesetzt, die in einem weitgehend entnationalisierten Rahmen stattfinden.
  • Dessen ungeachtet ist der Tonträger für alle Formen der populären Musik nach wie vor ein zentrales Kommunikationsmedium, denn er ist noch immer der Ausgangspunkt der Verwertungs- und Verbreitungskette, da neues Repertoire zunächst über den herkömmlichen, physischen Tonträger (CD sowie inzwischen auch wieder Vinyl) generiert wird. Der Tonträger steht deshalb im Zentrum des Musikmarkts, auch wenn er nur noch knapp die Hälfte des Umsatzes repräsentiert. Mit seinen kommerziellen und kulturellen Gesetzmäßigkeiten ist der Musikmarkt diejenige Ebene, die mit dem musikalischen Geschehen auf den anderen Ebenen am intensivsten verzahnt ist. Hinter den regelmäßig erfassten marktrelevanten Prozessen verbergen sich noch einmal umsatzschwache, aber kulturell relevante Entwicklungen, die sich auf den anderen Ebenen zu relevanten Größenordnungen aggregieren können, wie sich am Stellenwert der World Music oder des Dance-Sektors im Veranstaltungsbetrieb ablesen lässt. Die Zahl der Kleinfirmen, die hauptsächlich das Internet für den Vertrieb ihrer sehr spezialisierten Produkte nutzen, wird immer größer, auch wenn die von ihnen erzielten Umsätze im Verhältnis zu den marktbeherrschenden Unternehmen statistisch kaum ins Gewicht fallen. Der Verband unabhängiger Tonträgerunternehmen, Musikverlage und Musikproduzenten repräsentiert derzeit rund 1.300 kleine und mittelständische Betriebe, die Zahl der tatsächlichen Marktteilnehmer dürfte jedoch noch wesentlich höher liegen, da in keiner Statistik die Wohnzimmerfirmen und die im Onlinehandel mit ausländischen Klein- und Kleinstanbietern realisierten Umsätze erscheinen. Für die zahllosen Stilformen des Dance-Sektors, für die alternativen Musikstile von Indie Rock bis New Age und natürlich für die diversen Genres der World Music spielen diese Handelsformen aber schon deshalb eine nicht unwichtige Rolle, weil diese Produkte im regulären Tonträgerhandel wegen der geringen Nachfrage häufig gar nicht erst auftauchen. Je größer die Fragmentierung der diversen Musikszenen, umso größer ist auch die Bedeutung der alternativen Handelsformen. Techno mit seinen zahllosen Unterkategorien, von Ambient über Drum ’n’ Bass und House bis UK Garage, ist ein Beispiel dafür. Spezialisierte Web-Portale mit integriertem Onlineshop, Internetradio, eigenen Onlinecharts sowie einem vielfältigen Informationsangebot rund um Musik, wie etwa für den Dance-Sektor das von Großbritannien aus operierende „Trust the DJ“,[18] werden auch in Zukunft eine wachsende Rolle spielen.
  • Die dritte Ebene, die von den Medien Rundfunk und Fernsehen gebildet wird, hat ihre einst zentrale Stellung für die Musikentwicklung an das Internet verloren. Mit eigenen Onlineangeboten auch im Musikbereich versuchen die Sender, hier Boden zurückzugewinnen. Da sie mit ihren Lizenzgebühren sowohl für die Musikurheber*innen wie für die Musikproduzent*innen eine hohe wirtschaftliche Relevanz besitzen, ist die Entwicklung mit schwindenden Anteilen an nationalen Musikproduktionen bzw., was das Fernsehen betrifft, mit schwindenden Musiksendungen nicht ohne Brisanz.
  • Die vierte Ebene schließlich, das lokale Veranstaltungsgeschehen, ist in seiner Struktur wie seinen Auswirkungen am schwierigsten zu erfassen, denn hier laufen eine unüberschaubare Vielzahl von Aktivitäten zusammen, die von kommerziellen Großereignissen bis hin zu Stadtteilfesten oder vergleichbaren lokalen Ereignissen reichen. Auf dieser Ebene erfolgt die musikalische Ausdifferenzierung am schnellsten, sind Szenen und Subszenen im permanenten Neu- und Umbau begriffen, ohne dass sich dies auf den anderen Ebenen des musikalischen Geschehens zwingend manifestiert – und wenn, dann oft zeitlich mit erheblicher Verschiebung. Zwar gehört die mediale Öffentlichkeit zum popmusikalischen Erfolg nun einmal dazu, aber der hohe Anteil freiwillig oder unfreiwillig semi- oder nichtprofessionell agierender Musiker*innen gerade auf dieser Ebene ebenso wie die „geschlossene Öffentlichkeit“ nicht weniger Dance Clubs, die häufig nur für aktive Anhänger dieser Musik zugänglich sind und das auch bleiben wollen, führt zu eigenen Strukturen, die an entsprechende Szenemedien gebunden sind.

Zusammenfassen lässt sich die Situation wohl am besten in dem Paradoxon, dass je größer die Unübersichtlichkeit, desto leistungsfähiger die Szene ist. Gemessen daran steht es nicht schlecht um die populäre Musik in der Bundesrepublik Deutschland, sieht man von dem Umstand ab, dass es auf diesem Gebiet noch immer nicht zu einer angemessenen Institutionalisierung der Forschung gekommen ist. Lediglich das 2014 aus dem ehemaligen Volkslied-Archiv hervorgegangene Zentrum für populäre Kultur und Musik an der Universität Freiburg bildet hier eine Ausnahme. Ansonsten ist das Feld seit der Auflösung des Forschungszentrums populäre Musik an der Humboldt-Universität Berlin 2016 mehr oder weniger vereinzelten Graduierungsarbeiten überlassen, was dem gesellschaftlichen Stellenwert und der Leistungsfähigkeit dieses Sektors der Musikkultur in Deutschland nicht zuletzt auch im internationalen Vergleich kaum entspricht.

Über den Autor

Peter Wicke war bis zu seiner Emeritierung 2016 Inhaber des Lehrstuhls für Theorie und Geschichte der Populären Musik am Seminar für Musik- und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin und Leiter des Forschungszentrums Populäre Musik der Humboldt-Universität sowie Adjunct Research Professor am Department of Music der kanadischen Carleton University in Ottawa.
Empty State Autorenbild

Fußnoten

  1. Vgl. Bundesverband Veranstaltungswirtschaft: Live Entertainment in Deutschland, Hamburg 2018, S. 6 u. 12 sowie Bundesverband Musikindustrie: Musikindustrie in Zahlen 2016, Berlin 2017, S. 9.

  2. Vgl. Bundesverband Musikindustrie [u. a.] (Hrsg.): Musikwirtschaft in Deutschland. Studie zur volkswirtschaftlichen Bedeutung von Musikunternehmen unter Berücksichtigung aller Teilsektoren und Ausstrahlungseffekte. Berlin 2015, S. 24 (Zugriff: 4. Oktober 2018).

  3. Hingewiesen sei hier auch auf den Förderatlas der Initiative Musik; einen Überblick über die Fördermaßnahmen des Programms POP TO GO in sämtlichen Bundesländern bietet zudem das Forum der Popkultur- und Popularmusikförderer in Deutschland unter https://bvpop.de/pop/ (Zugriff: 24. Oktober 2018).

  4. Vgl. Bundesverband Veranstaltungswirtschaft, Live Entertainment in Deutschland, Hamburg 2018, S. 12.

  5. Vgl. Statistische Ämter des Bundes und der Länder: Musikfestivals und Musikfestspiele in Deutschland, Wiesbaden 2017, S. 17. Von den für diese Studie insgesamt 549 befragten Festivals nannten 328 besondere musikalische Schwerpunkte, etwas mehr als die Hälfte davon für populäre Genres wie Rock oder Pop. Vgl. ebd., S. 31.

  6. Vgl. Bundesverband Musikindustrie: Musikindustrie in Zahlen 2017, Berlin 2018.

  7. Angaben nach Bundesverband Musikindustrie, Musikindustrie in Zahlen 2017, S. 24 ff.

  8. Vgl. GEMA: Geschäftsbericht mit Transparenzbericht 2017, S. U3. Online unter https://gvl.de/sites/default/files/2021-05/gvlgeschaefts-transparenzbericht-2017.pdf (Zugriff: 15. August 2018); GVL: Transparenz- und Geschäftsbericht 2016, S. 8. Online unter https://gvl.de/sites/default/files/2021-05/gvltransparenz-undgeschaeftsbericht2016.pdf (Zugriff: 15. August 2018).

  9. Vgl. http://www.radiocharts.com/html/annual_charts_de_main.htm (Zugriff 15. Juli 2018).

  10. Vgl. Deutscher Bundestag: Stenografischer Bericht, 149. Sitzung, 17. Dezember 2004, 14022A. Online unter: http://dip21.bundestag.de/doc/btp/15/15149.pdf (Zugriff: 24. Oktober 2018).

  11. Vgl. ARD Fernsehstatistik 2017 (Deutsches Rundfunkarchiv), Frankfurt am Main 2018. Die deutlich über einer täglichen 24-stündigen Sendedauer liegende Gesamtzahl an Programmminuten erklärt sich aus dem Programmsplitting im Vorabendprogramm. Vgl. dazu auch den Beitrag „Musik im Rundfunk“.

  12. Vgl. Udo Michael Krüger: Profile deutscher Fernsehprogramme – Tendenzen der Angebotsentwicklung zur Gesamt- und Hauptsendezeit, in: Media-Perspektiven 4/2018, S. 176–198, hier S. 178. Online unter: https://www.ard-werbung.de/fileadmin/user_upload/media-perspektiven/pdf/2018/0418_Krueger.pdf (Zugriff: 15. August 2018).

  13. Angaben nach Social Media Today: Mind-Blowing YouTube Stats, Facts and Figures for 2017 [Infographic] unter https://www.socialmediatoday.com/social-business/mind-blowing-youtube-stats-facts-and-figures-2017-infographic (Zugriff 24. Oktober 2018).

  14. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest: JIM Studie 2017. Jugend, Information, (Multi-)Media, Stuttgart 2017, S. 43.

  15. Bundesverband Musikindustrie [u. a.] (Hrsg.), Musikwirtschaft in Deutschland, S. 30 u. 31; Bundesverband Musikindustrie, Musikindustrie in Zahlen 2014, Hamburg 2015, S. 9.

  16. Vgl. die Statistik „Interesse am Besuch von Rock- und Popfestivals bzw. Rock und Popkonzerten“ (Zugriff: 24. Oktober 2018 [seitdem fortgeschrieben, Anm. d. Red.]).

  17. Lutz Leichsenring / Creative-Footprint.org: Creative Footprint Music. Measuring Live Music Space in Cities. Creative Footprint Overview + Methodology (2017), S. 13 unter: https://s3.amazonaws.com/creative-footprint.org/CFP-Overview-Methodology.pdf (Zugriff: 24. Oktober 2018).

  18. http://www.trustthedj.com.